Leben mit Diabetes
Begriff
Marina ist 17 Jahre alt und seit drei Jahren Diabetikerin. Als
sie und ihre Familie damals mit der Diagnose konfrontiert
wurden, hatte sie von der Krankheit so gut wie keine Ahnung und
lediglich mal davon gehört, dass manche alten Leute „Zucker“
hätten. Diabetes ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der die
Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr erzeugt (Typ I) bzw. die
blutzuckersenkende Wirkung des Insulins abgeschwächt ist (Typ
II). Das Insulin ist ein Hormon, das von der Bauchspeicheldrüse in
den Blutkreislauf abgegeben wird, um den Zuckergehalt im Blut
auf möglichst gleichmäßiger Höhe zu halten. Der Blutzucker
steigt immer dann an, wenn mit der Nahrung Kohlenhydrate
aufgenommen und bei der Verdauung in Glukose umgewandelt werden.
Beim gesunden Menschen schüttet die Bauchspeicheldrüse immer
automatisch die entsprechende Menge Insulin aus. Der Diabetiker
hat zu wenig oder gar kein Insulin mehr, so dass der
Blutzuckerspiegel ohne Behandlung immer weiter ansteigen und für
den Organismus über kurz (Koma) oder lang (sogenannte
Folgeschäden, s.u.) Gefahren mit sich bringen würde. Es gibt verschiedene Arten von
Diabetes! Typ I Dieser Diabetestyp wird auch der jugendliche bzw.
insulinabhängiger Diabetes genannt, weil er meistens bei jungen
(unter 30), sehr schlanken Menschen auftritt und auf jeden Fall
Insulin zugeführt werden muss. Typ II Dieser Diabetestyp ist der am weitest verbreitete, „klassische“
Diabetes, der vor allem bei alten, übergewichtigen Menschen
vorkommt und zunächst mit Tabletten behandelt werden kann. Schwangerschaftsdiabetes Einige Frauen leiden in der zweiten Hälfte ihrer
Schwangerschaft an Diabetes, der nach der Geburt meistens wieder
verschwindet, sich aber zu einem späteren Zeitpunkt dann zu
einem Typ-II-Diabetes entwickeln kann. Was sind die Ursachen für diese
Krankheit? Die genaue Ursache für den Typ-I-Diabetes, an dem auch Marina
leidet, ist nach wie vor unbekannt. Die Ärzte wissen nur, dass
das Immunsystem (Abwehrsystem des Körpers bei Krankheiten), in
der Bauchspeicheldrüse plötzlich seine eigenen Zellen angreift
und zerstört. Auslöser für diese Reaktion können Viren (z.B.
ganz normale Grippeviren!) oder extreme psychische Belastungen
und Schocks sein, wobei sie von einer entsprechenden Veranlagung
für Diabetes begünstigt wird. Typ-II-Diabetes ist eine selbstverschuldete
Zivilisationskrankheit, die immer im Zusammenhang mit
Übergewicht entsteht, wenn man nämlich immer zu viel isst und so
die Bauchspeicheldrüse quasi auf Hochtouren laufen lässt, bis
sie eines Tages damit überfordert ist. In Deutschland gibt es derzeit ca. 4 Millionen Diabetiker,
davon 95% vom Typ II und 5% vom Typ I. In Zukunft wird die Zahl
noch deutlich ansteigen, wobei allerdings die Zahl der
Typ-I-Diabetiker unverändert bei ca. 300 000 bleibt, während die
der Typ-II-Diabetiker rapide zunimmt. Marina gehört also zu der Minderheit der jugendlichen
Diabetiker, die ohne eigenes Verschulden zu ihrer Krankheit
gekommen sind.
Woran erkennt man, dass man Diabetes
hat? Als Marina immer mehr abgemagert ist (wenn Insulin fehlt,
stimmt nämlich der Fettstoffwechsel auch nicht mehr und man
nimmt ab), obwohl sie so viel wie immer gegessen hatte, ging sie
zu ihrem Arzt, der bei der Blutuntersuchung feststellte, dass
der Blutzucker viel zu hoch war. Bei dem ausführlichen Gespräch
mit ihm stellte sich dann heraus, dass Marina unter den
typischen Symptomen eines Diabetes gelitten hatte, ohne sich
darüber im klaren zu sein: Hätte Marina nicht von sich aus den Arzt aufgesucht, wäre sie
irgendwann ins Koma gefallen. Zwar kann Diabetes nicht geheilt werden, aber mit der
entsprechenden Einstellung kann Marina ein fast normales Leben
führen. Zunächst kam Marina in eine
Spezialklinik, wo sie „eingestellt“ wurde, d.h. man hat
herausgefunden, wieviel Insulin sie für eine bestimmte Menge
Essen benötigt, und ihr beigebracht, sich den jeweiligen
Insulinbedarf für eine Mahlzeit selbst auszurechnen und auch
zu spritzen. Zum Spritzen des Insulins verwendet Marina einen
Pen, das ist ein Stift mit einer Insulinpatrone, an dem Marina
die entsprechende Insulineinheiten mit Hilfe einer Zahlenskala
abmisst und per Knopfdruck in ihren Bauch spritzt. Dazu macht
sie eine Hautfalte und schiebt die nur 1,2 cm kurze Nadel in
das Unterhautfettgewebe, was „schlimm“ aussieht, aber kaum zu
spüren ist. Um ihren Blutzucker regelmäßig selbst kontrollieren zu
können, entnimmt Marina mit Hilfe einer Lanzette aus der
Fingerkuppe einen Tropfen Blut und gibt diesen auf einen
Teststreifen ihres Blutzuckermessgerätes, das ihr nach einer
kurzen Wartezeit den aktuellen Wert angibt. So kann sie auf
nach oben bzw. unten abweichende Werte sofort reagieren Neben der Insulinbehandlung hat Marina bei einer
Ernährungsschulung außerdem gelernt, sechs kleinere Mahlzeiten
über den Tag zu verteilen (damit der Blutzuckerspiegel
ziemlich gleich hoch ist und nicht rauf und runter springt)
und solche Kohlenhydrate zu essen, die nicht so schnell
abgebaut werden und ihren Blutzuckerspiegel daher nach den
Mahlzeiten nicht zu rasant ansteigen lassen. Das heißt
hauptsächlich, statt Weißbrot, hellen Nudeln und Kuchen aus
Weißmehl und normalem Haushaltszucker isst Marina nun
Vollkornbrot und -reis, -nudeln und Kuchen aus dunklem Mehl
und Fruchtzucker (wird langsamer abgebaut als normaler
Zucker). Außerdem soll sie viel Obst und Gemüse verputzen. Wer mitgedacht hat, hat sicher gemerkt, dass Marina keine
schlimme „Diät“ halten muss, sondern sich lediglich nach
allgemeingültigen vernünftigen Regeln ernähren soll, die
eigentlich für alle Menschen gesund wären. Im Essen fühlt sich
Marina nicht eingeschränkt, vor allem da ihre größte
Befürchtung, sie dürfte nun keine Süßigkeiten mehr essen, sich
als unbegründet erwiesen hat. Sie isst nach wie vor ihre
Schokolade, Kekse, Eis und Kuchen, eben die speziellen
Diabetikerprodukte, die, wie das Testen durch ihre Freundinnen
ergeben hat, (beinahe) genauso gut wie die „normalen“
Naschereien schmecken. Der dritte Teil von Marinas Behandlung ist die Bewegung.
Sport ist nicht nur ohnehin gesund, sondern hat für Diabetiker
noch die interessante Wirkung, dass bei körperlicher
Anstrengung der Insulinbedarf sinkt, d.h. nach einer Stunde
Tennis kann Marina entsprechend weniger Insulin spritzen! Marina muss für eine Broteinheit (BE), die sie zu sich nimmt,
eine Einheit Insulin spritzen (andere Diabetiker können ein
anderes Verhältnis haben). Eine Broteinheit sind 12 g
Kohlenhydrate. In entsprechenden Tabellen kann Marina
nachschauen, wie viele BE ein bestimmtes Lebensmittel enthält. Beispiel: je 1 BE sind in 250g Joghurt, 60g Banane und 20g
Müsli. Marina muss sich also zu ihrem Frühstück (eine halbe
Banane, 125g Joghurt, 30g Müsli) 3 Einheiten Insulin spritzen. Während Marina am Anfang noch alles, was sie gegessen hatte,
sorgfältig abwiegen musste, kann sie mittlerweile mit bloßem
Auge gut abschätzen, wie viele BE vor ihr auf dem Teller
liegen und sie hat die gängigen Lebensmittelmengen im Kopf. Was sind so genannte Folgeschäden? Wenn ein Diabetiker es mit seiner Blutzuckereinstellung nicht
so genau nimmt und oft mit viel zu hohen Blutzuckerwerten
herumläuft (das Problem ist, dass schlechte Werte nicht weh
tun, da man sie nicht spürt!), dann riskiert er Schädigungen
der kleinsten Blutgefäße und damit der entsprechenden Organe.
Gefährdet sind vor allem die Nieren, die Augen und die Füße.
Allerdings treten diese Spätschäden erst nach jahre- bzw.
jahrzehntelangen schlechten Werten auf. Da Marina viermal im
Jahr ihren so genannten Langzeitzucker, der ihr zeigt, wie gut
sie in den letzten drei Monaten einge-stellt war, testen
lässt, kann sie auf Veränderungen sofort reagieren und braucht
keine Angst vor diesen Folgeerkrankungen zu haben. Warum schleppen Diabetiker ständig
Traubenzuckertäfelchen mit sich herum? Genauso gefährlich wie zu hohe Blutzuckerwerte sind zu
niedrige, die ebenfalls bis zum gefährlichen Koma führen
können. Diese sogenannten Unterzuckerungen können passieren,
wenn der Diabetiker zu viel Insulin gespritzt, mehr Sport als
geplant getrieben, Alkohol getrunken oder zu wenig
Kohlenhydrate bzw. zu spät nach dem Spritzen gegessen hat.
Wenn er dann folgende Anzeichen an sich bemerkt, greift er
schnell zu einem Traubenzucker, der sehr schnell ins Blut
gelangt und ihn wieder aus dem gefährlichen Zustand
herausholt: Vor allem die beiden zuletzt genannten Auffälligkeiten sind
für den Betroffenen schwierig, da er sie selber kaum mehr
wahrnehmen kann, aber für Außenstehende wie ein Betrunkener
wirkt, obwohl er dringend Hilfe bräuchte! Wie verändert sich das Leben mit
der Krankheit? Marinas Leben hat sich seit ihrem Diabetes eigentlich gar
nicht so sehr geändert. Gut, sie isst jetzt wesentlich
regelmäßiger und auch ein bisschen anders, aber nicht in einem
Maße, dass sie es als schlimme Diät mit lauter Verboten
empfinden würde. Nein, als leidenschaftliche Naschkatze kommt
sie nach wie vor voll auf ihre Kosten. An das Messen und Spritzen, das für die Außenstehenden meist
besonders abschreckend wirkt, hat sie sich rasch gewöhnt und
handhabt es mittlerweile so selbstverständlich wie das
tägliche Zähneputzen. Die Menschen in ihrer Umgebung (Familie, Freunde, Schule,
Sportverein) wissen Bescheid und nehmen auf (seltene) Probleme
Rücksicht. Marina muss weder auf Sport noch auf gemeinsame
Unternehmungen mit ihrer Clique verzichten. Sie bestellt dann
zu ihrem Hamburger eben noch einen Salat und trinkt Cola light
(Süßstoff statt richtiger Zucker) oder Wasser. Mag sein, dass Marina durch ihren Diabetes bereits ein wenig
erwachsener und vernünftiger wirkt als ihre Altersgenossen,
aber das muss ja kein Nachteil sein oder? Wie spürst du deinen Diabetes im täglichen Leben? „Eigentlich nur beim Essen. Ich kann nicht eben mal eine
Mahlzeit ausfallen lassen, sondern muss regelmäßig, so alle
zwei bis drei Stunden, etwas essen. Mein Magen hat sich
inzwischen so an seine festen Essenszeiten gewöhnt, dass ich
sogar am Wochenende, wenn ich eigentlich mal richtig
ausschlafen könnte, zur gewohnten Frühstückszeit aufwache und
tierischen Hunger habe. Meist esse ich dann was und gehe
hinterher einfach noch mal ins Bett.“ Wie reagieren die Mitmenschen? „Viele reagieren blöde und mitleidig, weil sie einfach zu
wenig über die Krankheit wissen und völlig falsche
Vorstellungen haben! Einmal habe ich im Restaurant die Bedienung gefragt, wie lang
es wohl mit dem Essen dauern würde, na ja, ich muss eben
zwischen spritzen und essen eine halbe Stunde warten, und
einmal habe ich nicht gefragt und zu früh gespritzt bzw. das
Essen kam extrem spät, so dass ich dann Traubenzucker essen
musste, weil das Insulin schon gewirkt hat, aber eben noch
keine Kohlenhydrate da waren und ich daher Unterzucker bekam.
Seither frage ich dann meistens, aber die eine Bedienung hat
sich ziemlich daneben benommen. Erst hat sie mich angegiftet,
ob ich denn so im Zeitdruck wäre oder es überhaupt nicht
abwarten könnte, bis ich an der Reihe wäre. Als ich der Tante
dann freundlich erklärt habe, was ich mit meiner Frage
eigentlich bezwecken wollte, hat sie völlig hysterisch
reagiert, ist davongerannt und mit einem überfüllten Brotkorb
zurückgekommen. Anscheinend hatte sie Angst, ich würde gleich
vom Stuhl kippen. Solche übertriebenen Reaktionen sind einfach
ätzend. Und Mitleid, das will ich nicht und das brauche ich
vor allem auch nicht. Da gibt es doch noch viel schlimmere
Krankheiten!“ Gab es schon unangenehme Situationen für dich? „Oh ja, am Flughafen, bei der Kontrolle meines Handgepäcks.
Da hatte ich meinen Insulinpen drin und der sah auf dieser
Durchleuchtungskamera anscheinend wie ein Drogenbesteck aus.
Da mein Englisch nicht so gut war, dass die dort meine
Erklärung kapiert haben, musste ich also meine Tasche und den
Pen auspacken. Dabei ist in der Hektik die Nadel abgebrochen.
Ich habe mich für einen kurzen Moment wie ein Verbrecher
gefühlt. Eigentlich bescheuert!“ Gab es auch witzige Geschichten? „An Ostern war ich in einem Gottesdienst, der recht lange
gedauert hatte, so dass meine Zwischenmahlzeit nach dem
Frühstück rein fiel. Ich hatte bereits damit gerechnet und
eine kleine Dose Kekse eingepackt. Die habe ich dann möglichst
unauffällig gegessen, während der Pfarrer seine Predigt hielt.
Wenn der gewusst hätte! Oder die strenggläubigen Omis in
meiner Reihe! Ich musste mich schon geschickt anstellen.
(lacht) Aber ich habe weiche Kekse genommen und nicht die
krachenden, wie sie in dem Werbespot mit der Oper vorkommen!“ Was nervt dich an dieser Krankheit? „Dass ich mich zum Spritzen in der Öffentlichkeit in die
Toilette verkrümeln muss, das ist irgendwie erniedrigend.
Klar, ich könnte mir genauso gut auch vor allen Leuten in den
Bauch spritzen, aber die blöden Blicke finde ich dann doch
noch schlimmer. Dann lieber ins Klo gehen. Außerdem muss ich immer schon vor dem Essen wissen, wieviel
ich denn haben will. Wenn es mir zu gut schmeckt, kann ich
nicht einfach nachladen oder im umgekehrten Fall das Essen
stehen lassen. Das muss dann rein. Manchmal auch die
Zwischenmahlzeiten, wenn ich eigentlich noch gar nicht wieder
hungrig bin.“ Hat sich dein Diabetes auch auf dein seelisches Befinden
ausgewirkt? „Was für eine Frage! Natürlich! Besonders am Anfang war ich
total frustriert! Andere Leute werden aus dem Krankenhaus
entlassen und sind gesund oder werden es zumindest bald sein.
Und ich, ich kam raus und hatte nun lebenslänglich mit einer
Krankheit zurechtzukommen. Ich fand das ziemlich gemein und
badete in Selbstmitleid. Diese Phase machen wohl alle durch.
Mit der Zeit habe ich dann gemerkt, dass alles nur halb so
wild ist. Gut, hin und wieder habe ich einen Tag, wo ich
schlecht drauf bin, einfach ungenießbar! (lacht, dann wieder
ernst) Solche Tage hat aber jeder von uns, oder? Meine Familie
und Freunde nehmen mir dann meine Launen auch nicht krumm.
(heftig) Aber es ist nicht so, dass ich das ausnutze und
meinen Diabetes vorschiebe, um mich unmöglich aufzuführen, das
fände ich link.“ Wie schränkt dich die Krankheit ein? „Eigentlich gar nicht.“ Was würdest du dir wünschen? „Den Blutzucker messen zu können, ohne mir immer in den
Finger stechen zu müssen, das tut nämlich auf die Dauer an den
Fingerspitzen ziemlich weh. Und dass die Leute nicht
automatisch so mitleidig glotzen, wenn sie mitkriegen, dass
ich Diabetes habe. Das ist weder ansteckend noch schlimm!“ |
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