Die Unerträglichkeit der Stille

Wann hast du eigentlich das letzte Mal nichts gehört?

Was ist denn das für eine blöde Frage?

Verstehst du etwa kein Deutsch?!? Ich will wissen, wann du zuletzt nichts gehört hast.

Beim Tauchen im Schwimmbad...

Jetzt mal im Ernst! Wann haben deine Ohren nichts, rein gar nichts vernommen?

Aber das geht doch gar nicht, man kann doch gar nicht „nichts“ hören!

Eben!

Genau das ist der springende Punkt! Man kann heute nämlich wirklich nicht mehr nichts hören. Stille gibt es nämlich nicht mehr. Aus. Vorbei. Passé.

Es ist so gut wie unmöglich, völlige Ruhe erleben zu dürfen. Ich sage absichtlich „dürfen“, denn völlige Ruhe scheint mittlerweile zu einem Privileg geworden zu sein.

In unserer modernen Gesellschaft grassiert eine neue Krankheit.

Ich nenne sie die Unerträglichkeit der Stille.

Du glaubst mir nicht?

Pah, die Symptome sind unverkennbar, lies doch selber nach!

Vielleicht geht es dir dann so wie mir und du bekommst plötzlich Lust auf eine neue Art von Luxus.

Der Stille heißt.

Ein wirklich seltenes und überaus kostbares Gut...


Von der Unmöglichkeit der Ruhe im Alltag

Himmlische Ruhe im Alltag gibt es nicht. Schluss. Basta.

Was zu beweisen ist:

  • Bereits das erste Geräusch, das wir frühmorgens bewusst wahrnehmen, jagt uns mit seinem grässlichen Klang einen Schauer über den Rücken. Ob der Wecker nun schrill scheppert und klingelt, ob er etwas zurückhaltender, jedoch um keinen Deut nachgiebiger summt oder ob er uns mit musikalischen Tönen eine behagliche Atmosphäre vorzugaukeln versucht, sein Geräusch bleibt stets ekelhaft.

  • Weiter geht es mit dem satten PS-starken Sound der verschiedenen Verkehrsmittel auf dem Weg zur Schule oder Arbeit. Beneidenswert die Glücklichen, die i n einem Bus, Zug u.ä. Krachmacher sitzen und die Geräusche der Außenwelt angenehm gefiltert bekommen. Im Gegensatz zu den bedauernswerten Fahrradfahrern und Fußgängern, die sich gegen das Hup- und Motoren-Brumm-Konzert um sich herum in keinster Weise wehren können...

  • Um der ausgleichenden Gerechtigkeit willen haben die Im-Bus-Mitfahrer im Vergleich zu den Neben-dem-Bus-Fahrern bzw.-Läufern jedoch eine zusätzliche Lärmquelle auszuhalten: Radio-Gedudel mit höchst unterhaltsamen Verkehrsfunk, kurzweiliger Werbung und mitreißender Schlagermusik. Schließlich haben die Busfahrer einige Jährchen mehr auf dem Buckel als die Schülerschar, die sie herum kutschieren. Ältere Busfahrer haben sich nämlich längst das für diesen Job erforderliche dicke Fell zugelegt. Und in besonders schlimmen Fällen einen beachtlichen Stapel an Volksmusikkassetten auf dem Armaturenbrett liegen, die sie gönnerhaft ihren Passagieren vorspielen...

  • A propos Radio-Gedudel: Ich bin verzweifelt auf der Suche nach einem Restaurant, einem Bistro oder einem Café, in dem keine Musik gespielt wird und man sich noch gemütlich unterhalten kann. Anstatt Konversation dadurch zu betreiben, dass man wild gestikuliert und sich anbrüllt. Aber selbst bei erträglicher Lautstärke finde ich das ständige Radio-Gedudel unerträglich. Weil man sich nicht wehren kann und die Musik hören muss, ob sie einem nun gefällt oder nicht. Und meistens ist Letzteres der Fall. Ein Sirtaki und chinesische Jang-Jang-Musik mögen ja recht nett sein, aber nach der zehnten Wiederholung schmeckt mir das Essen dann nicht mehr.

  • Die Wir-lassen-überall-das-Radio-spielen-Welle hat inzwischen sämtliche Einrichtungen, die man aufsuchen möchte oder muss, erfasst. Ob im Wartezimmer des Arztes oder in den Büros der Behörden. In den Geschäften sowieso. Kein Platz mehr, an dem man vor dieser unfreiwilligen Beschallung sicher wäre!

  • Besonders toll ist die akustische Untermalung in den großen Warenhäusern, Einkaufstempeln und Super-/Verbrauchermärkten. Die machen sich für ihre werte Kundschaft nämlich gar die Mühe und gehen selbst auf Sendung. Mit eigenem Programm. Kaum versagt dem schnulzenden Phil Collins die Stimme, lädt uns eine nicht minder schnulzige und noch viel freundlichere Stimme dazu ein, „in den ersten Stock zum ganz speziellen Super-Super-Sonderangebot zu einem sagenhaft günstigen Extrapreis“ zu kommen. Während wir die Fährte aufnehmen, begleitet uns eine schmachtende Mariah Carey auf unserm Weg dorthin...

  • Nicht einmal beim Telefonieren ist man vor der akustischen Verfolgung geschützt! Als ich neulich bei meinem Augenarzt angerufen habe und mich mit ihm verbinden lassen wollte, kam nach der freundlichen Auskunft der Arzthelferin „Ich stelle Sie durch, sie müssen sich jedoch einen Moment gedulden!“ nicht etwa wohltuende Stille aus dem Hörer, sondern mir wurde die unzumutbare Wartezeit von exakt 17 Sekunden (ich habe mitgestoppt!) mit einer scheppernden Version von Mozarts Kleiner Nachtmusik versüßt. Bei der Stadtverwaltung war es übrigens Udo Jürgens´ Griechischer Wein...

  • Die heimtückische Krankheit „Unerträglichkeit der Stille“ scheint sich wie eine Epidemie unter der Bevölkerung auszubreiten: Hetzende Menschen mit Walkman auf den Köpfen und entrückten Gesichtern. Halbstarke, die unermüdlich ihren handlichen Ghettoblaster durch die Gegend tragen. Autos, die nicht fahren, sondern hüpfen, und zwar im Takt der in ihnen laufenden Musik.

  • Und zu Hause? Da läuft den ganzen Tag die Glotze. Komisch, früher konnte Mutti doch auch bügeln, ohne sich gleichzeitig eine tiefschürfende Talkshow reinzuziehen, oder? Gemeinsame Mahlzeiten wurden noch bei gemeinsamen Gesprächen eingenommen und nicht bei flimmernden Bildern oder vibrierenden Boxen. Selbst die Hausaufgaben brachte man noch ohne Hintergrundberieselung hinter sich. Warum ist das heute bei so vielen Zeitgenossen einfach nicht mehr möglich?

  • Nicht einmal im Internet kann man surfen, ohne dass man bei besonders „kreativen“ Webseiten mit lästigen Sounds genervt wird.

  • Gegen all diese Beschallungsmonster hören sich Kindergeschrei und bellende Hunde wie Musik in den Ohren an...

    In manchen Momenten wünsche ich mir dann nichts sehnlicher mehr als Ruhe. Himmlische Ruhe. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.


    Ein paar Gedanken über mögliche Ursachen der Beschallungssucht

    Die permanente Geräuschkulisse im Hintergrund scheint für uns Menschen im Laufe der Jahre/Jahrzehnte einen Gewöhnungseffekt mit sich gebracht zu haben. Plötzlich können wir nicht mehr ohne. Ich selbst will mich da gar nicht ausnehmen.

    Ein paar Beispiele:

    Warum ist es für uns nur so unerträglich, wenn bei einer Unterhaltung einmal der Gesprächsfaden reißt und unerwartete Stille eintritt. Plötzlich schweigen alle. Und dieses Schweigen fühlt sich irgendwie ungemütlich an. Man verspürt den Drang, diesem unangenehmen Schweigen möglichst schnell ein Ende zu bereiten. Und sagt dann irgend etwas Belangloses, das man sich ruhig hätte sparen können. Nur damit das Gespräch wieder weiter geht.

    Ich persönlich glaube an die Theorie der Koppelung von Geräusch und Bewegung. Im positiven Sinne erfahren wir dieses Phänomen bei dem Drang, zu einer mitreißenden Musik tanzen, wippen, schnipsen zu müssen. Die Musik geht ins Blut. Umgekehrt funktioniert das natürlich auch. Dass Bewegung in uns ein Verlangen nach Geräuschen auslöst. Was weniger erfreulich ist. Spiegeln sich wirklich die Hektik, Dauerstress und die Non-Stopp-Freizeit-Action in unserer Gesellschaft in ihrem akustischen Pendant wieder? Eben in Form jener Dauerbeschallung? Der Unerträglichkeit der Stille?

    Ich befürchte fast ja...


    Lärm-Schäden machen später Ärger

    Ständige Geräuschkulisse und zu starker Lärm bringen Probleme.

    Die negativen Folgen von zu hohen Dezibelwerten liegen klar auf der Hand: Gehörschäden. Schon jetzt haben mindesten ein Fünftel aller Jugendlichen ihr Gehör durch exzessiven „Musikgenuss“ irreparabel (!) geschädigt. Tendenz steigend.

    Die Schäden der akustischen Dauerberieselung überhaupt sind nicht ganz so offensichtlich. Ununterbrochene Reize und immer mehr Geräusche gleichzeitig, die auf unser Sinnesorgan Ohr los gehen, überfordern es schlicht und einfach. Es kommt zu einer regelrechten Reizüberflutung, so dass unser eingebautes Filtersystem immer größere Schwierigkeiten bekommt, die unterschiedlichen Reize zu orten, zu erkennen und zu bewerten. Wir können nur hoffen, das unser Gehör im Ernstfall noch die wirklich wichtigen Signale aufnehmen kann und wir bei gefährlichen Geräuschen noch richtig und schnell genug reagieren können: das sich seitlich oder im Rücken nähernde Geräusch im Straßenverkehr, Suchmeldungen im Radio, um Aufmerksamkeit ringendes Hundegebell, Baby-Weinen...

    Eine weitere negative Folge besteht darin, dass wir in unserer akustischen Wahrnehmung immer mehr abstumpfen. Wir registrieren und hören Musik, aber wir genießen sie nicht. Verzücktes Lauschen erfordert schließlich Konzentration und Mühe. Klappt am besten bei geschlossenen Augen. Wir bekommen eine solche Fülle unterschiedlichster Geräusche serviert, dass wir es immer mehr verlernen, die leisen Töne wahrzunehmen: Katzenschnurren, Bienensummen, Vogelgezwitscher, Regentropfen, ruhige Atemzüge eines Schlafenden...

    Stille-Übungen für bekehrte Lärm-Junkies und bekennende Stille-Jünger

    Wenn du Lust hast, mal wieder was Gutes für dein malträtiertes Sinnesorgan Ohr zu tun, kannst du folgende Übungen ausprobieren, getreu dem Motto „zurück zur Natur“:

    Augen schließen

    Simple Übung, aber überaus wirkungsvoll! Du kannst sie vor allen Dingen überall durchführen (außer natürlich beim Fahrrad fahren...): im Wartezimmer des Arztes, an der Bushaltestelle, in deinem Zimmer bei geöffnetem Fenster, auf der Bank im Park sitzend usw. Schließe die Augen und versuche alle Geräusche, die du hörst, zu identifizieren. Du wirst staunen, wenn du plötzlich wieder Tierlaute vernimmst...

    Bewusster Genuss

    Zeige dich als wahrer Genießer in allen Dingen! Höre die neue CD deiner Lieblingsband konzentriert an, lese deine Zeitschrift ohne eingeschaltetes Fernsehgerät im Hintergrund, widme deinem Mittagessen die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Es soll ja tatsächlich Leute geben, die die vier genannten Beschäftigungen gleichzeitig machen...

    Horch mal!

    Ein Spiel für Zwei. Einer hält die Augen geschlossen, während der Partner ein bestimmtes Geräusch produziert, das er erkennen muss: einen Bleistift spitzen, die Vorhänge aufziehen, den Füller aufschrauben, auf Papier schreiben usw. Kann ganz schön peinlich werden, wenn du erst beim dritten Mal merkst, dass dein Gegenüber nicht ein Stück Papier zerrissen, sondern ein Streichholz angezündet hat...

    Diese Übung schärft garantiert dein Gehör!

    Lautstärke kontinuierlich abbauen

    Wenn du deinen Ohren und vor allem deiner Gesundheit einen Gefallen tun willst, dann gewöhne dir beim Musik hören eine „unschädliche“ Lautstärke an! Für den Walkman heißt das, dass du auf jeden Fall noch die Außengeräusche hören solltest. Auch in deinem Zimmer müssen die Wände nicht unbedingt wackeln, du kannst ja deinen Hammersound nach und nach abbauen. Jeden Tag etwas leiser, bis du im ohrenfreundlichen Bereich gelandet bist. Du erzielst damit gleich zwei Erfolge: du schonst nämlich sowohl dein Gehör, als auch die Nerven deiner Eltern...


    Möglicherweise ist das verrückte Experiment, bei dem einige Talkmaster schweigend zusammensaßen, ein erstes Zeichen dafür, dass die Stille in unserer Gesellschaft doch noch eine Chance hat...



    Copyright 2000 Anja Gerstberger, Fotos: Copyright Corel Gallery Magic und Corel Draw, verwendet in Lizenz