Verstehst du etwa kein Deutsch?!? Ich will wissen, wann du
zuletzt nichts gehört hast.
Jetzt mal im Ernst! Wann haben deine Ohren nichts, rein gar
nichts vernommen?
Genau das ist der springende Punkt! Man kann heute nämlich
wirklich nicht mehr nichts hören. Stille gibt es nämlich nicht
mehr. Aus. Vorbei. Passé.
Es ist so gut wie unmöglich, völlige Ruhe erleben zu dürfen.
Ich sage absichtlich „dürfen“, denn völlige Ruhe scheint
mittlerweile zu einem Privileg geworden zu sein.
In unserer modernen Gesellschaft grassiert eine neue Krankheit.
Ich nenne sie die Unerträglichkeit der Stille.
Vielleicht geht es dir dann so wie mir und du bekommst
plötzlich Lust auf eine neue Art von Luxus.
Der Stille heißt.
Ein wirklich seltenes und überaus kostbares Gut...
Himmlische Ruhe im Alltag gibt es nicht. Schluss. Basta.
Gegen all diese Beschallungsmonster hören sich Kindergeschrei
und bellende Hunde wie Musik in den Ohren an...
In manchen Momenten wünsche ich mir dann nichts sehnlicher
mehr als Ruhe. Himmlische Ruhe. Nicht mehr. Aber auch nicht
weniger.
Ein paar Gedanken über mögliche Ursachen der
Beschallungssucht
Die permanente Geräuschkulisse im Hintergrund scheint für uns
Menschen im Laufe der Jahre/Jahrzehnte einen Gewöhnungseffekt
mit sich gebracht zu haben. Plötzlich können wir nicht mehr
ohne. Ich selbst will mich da gar nicht ausnehmen.
Ein paar Beispiele:
Warum ist es für uns nur so unerträglich, wenn bei einer
Unterhaltung einmal der Gesprächsfaden reißt und unerwartete
Stille eintritt. Plötzlich schweigen alle. Und dieses
Schweigen fühlt sich irgendwie ungemütlich an. Man verspürt
den Drang, diesem unangenehmen Schweigen möglichst schnell ein
Ende zu bereiten. Und sagt dann irgend etwas Belangloses, das
man sich ruhig hätte sparen können. Nur damit das Gespräch
wieder weiter geht.
Ich persönlich glaube an die Theorie der Koppelung von
Geräusch und Bewegung. Im positiven Sinne erfahren wir dieses
Phänomen bei dem Drang, zu einer mitreißenden Musik tanzen,
wippen, schnipsen zu müssen. Die Musik geht ins Blut.
Umgekehrt funktioniert das natürlich auch. Dass Bewegung in
uns ein Verlangen nach Geräuschen auslöst. Was weniger
erfreulich ist. Spiegeln sich wirklich die Hektik, Dauerstress
und die Non-Stopp-Freizeit-Action in unserer Gesellschaft in
ihrem akustischen Pendant wieder? Eben in Form jener
Dauerbeschallung? Der Unerträglichkeit der Stille?
Ich befürchte fast ja...
Lärm-Schäden machen später Ärger
Ständige Geräuschkulisse und zu starker Lärm bringen
Probleme.
Die negativen Folgen von zu hohen Dezibelwerten liegen klar
auf der Hand: Gehörschäden. Schon jetzt haben
mindesten ein Fünftel aller Jugendlichen ihr Gehör durch
exzessiven „Musikgenuss“ irreparabel (!) geschädigt. Tendenz
steigend.
Die Schäden der akustischen Dauerberieselung überhaupt sind
nicht ganz so offensichtlich. Ununterbrochene Reize und immer
mehr Geräusche gleichzeitig, die auf unser Sinnesorgan Ohr los
gehen, überfordern es schlicht und einfach. Es kommt zu einer
regelrechten Reizüberflutung, so dass unser
eingebautes Filtersystem immer größere Schwierigkeiten
bekommt, die unterschiedlichen Reize zu orten, zu erkennen und
zu bewerten. Wir können nur hoffen, das unser Gehör im
Ernstfall noch die wirklich wichtigen Signale aufnehmen kann
und wir bei gefährlichen Geräuschen noch richtig und schnell
genug reagieren können: das sich seitlich oder im Rücken
nähernde Geräusch im Straßenverkehr, Suchmeldungen im Radio,
um Aufmerksamkeit ringendes Hundegebell, Baby-Weinen...
Eine weitere negative Folge besteht darin, dass wir in
unserer akustischen Wahrnehmung immer mehr abstumpfen.
Wir registrieren und hören Musik, aber wir genießen sie nicht.
Verzücktes Lauschen erfordert schließlich Konzentration und
Mühe. Klappt am besten bei geschlossenen Augen. Wir bekommen
eine solche Fülle unterschiedlichster Geräusche serviert, dass
wir es immer mehr verlernen, die leisen Töne wahrzunehmen:
Katzenschnurren, Bienensummen, Vogelgezwitscher, Regentropfen,
ruhige Atemzüge eines Schlafenden...
Stille-Übungen für bekehrte Lärm-Junkies und bekennende
Stille-Jünger
Wenn du Lust hast, mal wieder was Gutes für dein
malträtiertes Sinnesorgan Ohr zu tun, kannst du folgende
Übungen ausprobieren, getreu dem Motto „zurück zur Natur“:
Augen schließen
Simple Übung, aber überaus wirkungsvoll! Du kannst sie vor
allen Dingen überall durchführen (außer natürlich beim Fahrrad
fahren...): im Wartezimmer des Arztes, an der Bushaltestelle,
in deinem Zimmer bei geöffnetem Fenster, auf der Bank im Park
sitzend usw. Schließe die Augen und versuche alle Geräusche,
die du hörst, zu identifizieren. Du wirst staunen, wenn du
plötzlich wieder Tierlaute vernimmst...
Bewusster Genuss
Zeige dich als wahrer Genießer in allen Dingen! Höre die neue
CD deiner Lieblingsband konzentriert an, lese deine
Zeitschrift ohne eingeschaltetes Fernsehgerät im Hintergrund,
widme deinem Mittagessen die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Es
soll ja tatsächlich Leute geben, die die vier genannten
Beschäftigungen gleichzeitig machen...
Horch mal!
Ein Spiel für Zwei. Einer hält die Augen geschlossen, während
der Partner ein bestimmtes Geräusch produziert, das er
erkennen muss: einen Bleistift spitzen, die Vorhänge
aufziehen, den Füller aufschrauben, auf Papier schreiben usw.
Kann ganz schön peinlich werden, wenn du erst beim dritten Mal
merkst, dass dein Gegenüber nicht ein Stück Papier zerrissen,
sondern ein Streichholz angezündet hat...
Diese Übung schärft garantiert dein Gehör!
Lautstärke kontinuierlich abbauen
Wenn du deinen Ohren und vor allem deiner Gesundheit einen
Gefallen tun willst, dann gewöhne dir beim Musik hören eine
„unschädliche“ Lautstärke an! Für den Walkman heißt das, dass
du auf jeden Fall noch die Außengeräusche hören solltest. Auch
in deinem Zimmer müssen die Wände nicht unbedingt wackeln, du
kannst ja deinen Hammersound nach und nach abbauen. Jeden Tag
etwas leiser, bis du im ohrenfreundlichen Bereich gelandet
bist. Du erzielst damit gleich zwei Erfolge: du schonst
nämlich sowohl dein Gehör, als auch die Nerven deiner
Eltern...
Möglicherweise ist das verrückte Experiment, bei dem einige
Talkmaster schweigend zusammensaßen, ein erstes Zeichen dafür,
dass die Stille in unserer Gesellschaft doch noch eine Chance
hat...
Copyright 2000 Anja Gerstberger, Fotos:
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