Der Zauber der Vorfreude
"Vorfreude ist die schönste Freude" lautet ein bekanntes
Sprichwort.
"Freu dich bloß nicht zu früh!", warnt eine Zeile in
einem Lied.
Was ist nun richtig in punkto Vorfreude?
Lies weiter und entscheide dich am Ende selber!
Ich für meine Person habe mich bereits festgelegt.
Wie, findest du ebenfalls am Schluss.
Vorfreude ist eine Art süßer Schmerz
Der verführerische Duft aus dem Ofen
raubt dir beinahe die Sinne, aber du musst noch warten, wenn du
dir nicht die Zunge verbrennen oder dir Magenschmerzen einfangen
willst. Thorstens Moped steht bereits in der Garage, aber bis zu
seinem Geburtstag und der Führerscheinprüfung sind es noch zwei
Wochen hin. Zwei Wochen können dann verdammt lange sein. Aber
immer mal wieder draufsetzen und über den Lack streichen ist ja
erlaubt. Und tut irgendwie weh, weil man vor Ungeduld zu platzen
glaubt. Allerdings ist der Schmerz des Noch-Warten-Müssens oder
der bewussten Selbstquälerei wie bei Thorsten ein bittersüßer.
Und außerdem vergänglich.
Vorfreude auf Premieren ist die stärkste
Für alles gibt es ein erstes Mal. Und danach wird es niemals
ein zweites erstes Mal geben. Darum legen wir unsere gesamten
Wünsche in dieses bedeutsame Ereignis hinein und basteln uns ein
traumhaftes Ideal. Je länger die Wartezeit, umso gigantischer
die Vorstellung davon, wie es wird. Allein der Gedanke daran
macht uns verrückt und kribbelig. Premierenfieber sozusagen.
Manche zögern den Zeitpunkt der Verwirklichung bewusst hinaus,
um die Vorfreude länger genießen zu können. Wieder andere
preschen überhastet vor und werden dabei nicht selten zum
eigenen Spielverderber. Klar, wirst du dich immer wieder auf
tolle Ereignisse freuen können, aber die Vorfreude wird nie mehr
so mächtig sein wie beim ersten Mal. Wie gut, dass uns so viele
Premieren im Leben erwarten: die erste Liebe, der erste Kuss,
das Erste Mal, die erste eigene Wohnung, ...
Und was siegt bei dir? Die ungeduldige Neugier oder die
berauschende Droge der Fantasie?
Vorfreude schult die Geduld
Schon kleine Kinder müssen lernen,
sich in Geduld zu üben. Vor allem vor so wichtigen Ereignissen
wie ihrem Geburtstag oder Weihnachten. Um ihnen die Sache zu
erleichtern und die Wartezeit zu veranschaulichen, lässt man sie
daher gerne mitzählen. Noch 15 Türchen im Adventskalender, dann
ist Heiligabend. Noch viermal schlafen, dann ist dein
Geburtstag.
Später geht diese Geduldsschule dann unter verschärften
Bedingungen weiter. Das Überraschungspäckchen der Patentante zum
Schulabschluss trifft bereits zehn Tage vor dem eigentlichen
Termin ein, weil es die Tante vor der Urlaubsreise aufgegeben
hat. Was sind die läppischen zwei Stunden am Weihnachtstag vor
der Bescherung im Vergleich zu zehn Tagen, in denen das bunte
Päckchen schon vor einem liegt, aber noch nicht ausgepackt
werden darf? Erlaubt sind lediglich sehnsüchtige Blicke und
forschendes Schütteln. Viel zu wenig.
Hat man sich dann unter extremer Selbstbeherrschung erfolgreich
bis zu dem ersehnten Moment geduldet, ist es mit unserer Geduld
dann beim Auspacken vorbei und wir reißen ungeduldig das
Geschenkpapier herunter...
Vorfreude kann Schmerzen bereiten
Nämlich dann, wenn sich unsere Vorstellungen und Wünsche nicht
erfüllen. Wenn statt des erwarteten Glücks die herbe
Enttäuschung kommt.
Peter hat sich riesig auf das gemeinsame Wochenende mit seiner
Freundin Andrea gefreut. Seine Eltern würden verreisen, so dass
er sturmfreie Bude hätte, die er in ein romantisches Liebesnest
umzufunktionieren gedachte. Er kaufte besondere Leckereien ein,
dekorierte die Zimmer mit Herzen, Blumen und Kerzen und bekam
allein beim Gedanken auf die Glücksmomente, die sie beide
erwarteten, eine wohlige Gänsehaut. Peters Traum platzte mit
Andreas Anruf am Freitag Nachmittag, dass sie sich bei ihrem
kleinen Bruder mit den Windpocken angesteckt hatte, der sie aus
dem Kindergarten angeschleppt hätte. Klar, dass sich Peters
Vorfreude ob dieser Hiobsbotschaft in schmerzhafte Enttäuschung
verwandelte, gepaart mit einem Schuss unberechtigter Wut.
Das ist nun mal die Kehrseite der Vorfreude.
Haben wir zu lange Zeit, dem Termin für ein bestimmtes Ereignis
zu entgegenzufiebern und uns selbiges in den schillerndsten
Farben auszumalen, dann ist die Enttäuschung natürlich umso
größer, wenn es mit dem erwarteten Genuss nichts wird.
Geburtstage, Partys, Urlaube, Konzerte, Ausflüge und Jubiläen
dolchen mitten ins Herz, werden sie vergessen, verpasst,
verschoben oder abgesagt. Oder nicht das halten, was sie uns
versprochen haben.
Denn fast noch schlimmer als nicht stattfindende Events sind
diejenigen, die einen frustrierenden Verlauf nehmen. Lichtjahre
vom eingebildeten Glückspfad entfernt.
Wie hatte sich Lisa auf den gemeinsamen Urlaub mit Jörg
gefreut! Und dann? Ärger, Streit und verfrühte Heimreise. Weil
man den Tagesablauf und die Unternehmungen nicht auf einen
Nenner bringen konnte, die Unterkunft das letzte Loch war und zu
allem Übel das fürs tägliche Leben einkalkulierte Geld hinten
und vorne nicht reichte. Klassischer Fall von üblem Urlaubsfrust
nach extremer Vorfreude.
Vorfreude macht Spaß!
Gut, ein Restrisiko bleibt bei Vorfreude immer bestehen. Doch
meiner Meinung nach hat die Vorfreude als solche für mich einen
derart hohen Eigenwert, dass sie gelegentliche Enttäuschungen
bei weitem aufwiegt.
Wie langweilig wäre das Leben, gäbe es da nicht die strahlenden
Ereignisse, auf die wir uns schon lange vor ihrem Eintreffen
freuen können?
Kleine Glücksinseln, die schon vor der Verwirklichung ihre
selig machende Wirkung entfalten.
Finde ich prima. Und daher werde ich mich auch in Zukunft
hemmungslos meinen Vorfreude-Träumen hingeben, auch wenn sich
der eine oder andere von ihnen als "Schaum" entpuppt.
Schließlich liegt es ja auch zu einem großen Teil an mir, wie
die Chose laufen wird.
Und da die Vorfreude irgendwie auch die Wegbereiterin für
spätere schöne Erinnerungen ist, ist sie gleichzeitig eine
doppelte Freude...
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright by
Corel Draw, verwendet in Lizenz
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