April, April!

Dieses Jahr würde er am 1. April niemandem auf den Leim gehen, hatte sich Mathias geschworen, dieses Jahr nicht!

Darum hatte er am Vorabend auch seinen Fahrradhelm auf den Nachttisch gelegt, damit er am Morgen beim ungewohnten Anblick des Fremdkörpers neben seinem Kopfkissen sofort daran erinnert würde. Mathias hatte zum Thema Aprilscherz zwar keine Wette laufen, aber den Ehrgeiz des typischen Sportlers in sich, aus der Herausforderung als Sieger hervor zu gehen. Er würde den ganzen Tag höllisch aufpassen und sämtliche Versuche, ihn in den April schicken zu wollen, mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht abwehren. Und damit den Übeltätern gehörig den Spaß verderben! Zufrieden vor sich hin pfeifend, machte sich Mathias auf den Weg in Richtung Esszimmer, wo die ersten Gegner- dessen war er sich absolut sicher, bereits in den Startblöcken sitzen würden.

Zwei Minuten später schaute sich Mathias suchend auf dem Frühstückstisch um und fragte: "Wo ist denn das Nutella?"

Seine jüngere Schwester Melanie antwortete ihm schadenfroh: "Keins mehr da! Ich hab das Glas leer gemacht und Mutti hat kein neues gekauft!" Ihrem zufriedenen Lachen fügte sie noch eine Stichelei hinzu: "Pech gehabt, Langschläfer!"

Aber Mathias ließ sich nicht beirren und entgegnete: "Ich weiß, dass du mich nur in den April schicken willst, Zwerg Schnute, aber daraus wird nichts!" Sprach´s und ging zum Küchenschrank, um das Nutellaglas, das gestern noch halb voll gewesen war, mit einem triumphierenden Lächeln aus dem Küchenschrank zu holen, wo es Melanie versteckt hatte. Die verhinderte Fallenstellerin machte daraufhin dem ungeliebten Spitznamen ihres Bruders alle Ehre und verzog ihren Mund, den eben noch ein freches Grinsen umspielt hatte, zu einer halb enttäuschten und halb beleidigten Schnute.

Eine Viertelstunde später. Mathias wollte gerade das Haus verlassen, doch sein Vater hielt ihn zurück: "Hey, Junior, du wirst doch nicht mit einem Loch im Socken in die Schule wollen?" Dabei deutete er auf Mathias Füße. "An der rechten Ferse!"

Doch Mathias ließ sich nicht von dem wohlmeinenden Tonfall und überzeugt gespielten Geste täuschen. "Vergiss es Papa, ich fall nicht drauf rein!" Obwohl er es fast wäre, wie sich Mathias heimlich gestehen musste, denn bisher hatte sich ihr Vater am !. April stets aus diesen Neckereien zurückgehalten und deswegen eben umso überzeugender gewirkt. Der Versuch war gar nicht schlecht, zollte Mathias ihm insgeheim Lob.

In der Schule ging der Wettbewerb dann weiter. Aber Mathias hatte sich wirklich gut im Griff, war ständig auf der Hut und konnte dank seiner beachtlichen Konzentration sogar sämtlichen Schlingen seines besten Kumpels ausweichen. Der seine zahlreichen Fehlversuche wiederum mit einem gutmütigen Schulterzucken abtat. "Dann eben beim nächsten Mal!", meinte er.

"Es wird kein nächstes Mal geben!", behauptete Mathias und machte sich seinerseits äußerst erfolgreich auf die Jagd nach Opfern. Bis zum Unterrichtsende hatte er immerhin sieben Leute erfolgreich in den April schicken können. Eine - wie er fand - beachtliche Quote.

Mit dem Gong schnappten sich alle Schüler ihre Taschen und stürmten aus dem Klassenzimmer. "Hey, Mathias, du hast dein Mathebuch vergessen!", rief Sebastian seinem Freund nach. "Hab ich nicht!", kam Mathias` Echo, der sich hundertprozentig sicher war, das Mathebuch eingepackt zu haben. "War wohl dein letzter Versuch!", empfing er einen geschlagenen Sebastian. Der heute öfter Opfer als Täter war. Sehr zu seinem Bedauern. "Okay, ich gebe mich endgültig geschlagen!", lachte er Mathias an und versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Seite, bevor sie zusammen zum Fahrradkeller trotteten.

"Deswegen hattest du es so verdammt eilig, nach dem Training wegzukommen!", meinte Mathias zu seiner Vereinskameradin Simone an der Bushaltestelle.

Die beiden trainierten seit Jahren gemeinsam im gleichen Schwimmverein. Dreimal die Woche, jeweils von 15.45 bis 17.15.

Während er sich auf die Freistilstrecken spezialisiert hatte, war Simone eine hervorragende Rückenschwimmerin, gegen die er im direkten Vergleich wohl den Kürzeren ziehen würde. Da sie sonst gewöhnlich auf ihn am Eingang wartete, um mit ihm zusammen zur Bushaltestelle zu gehen, hatte Mathias sich heute gewundert, dass von Simone nichts zu sehen war. Nach einer angemessenen Wartezeit hatte er sich dann eben alleine auf den Weg gemacht. Um im Wartehäuschen seine Schwimmkollegin anzutreffen, die genüsslich eine dicke Nussecke verspeiste und noch weiter in ihrer dicken Papiertüte haben musste.

"Genau", bestätigte Simone, biss genussvoll in ihr Backwerk und kaute mit vollen Backen. Sie ähnelte dabei einem Eichhörnchen bzw. einem Hamster, stellte Mathias fest. Sah irgendwie putzig aus.

"Allein essen macht dick!", versuchte Mathias, einen Teil der Leckerei abzubekommen.

"Nö, gibt ne Menge Kraft!", schüttelte Simone den Kopf. "Hol dir halt selber welche! Ab halb Sechs Uhr kosten sie nur die Hälfte, in den letzten fünf Minuten sogar nur ein Viertel vom normalen Verkaufspreis."

"Beim Mareis?", wollte Mathias wissen. Mareis war der Bäcker um die Ecke.

"Nö. Beim Schiller." Schiller war der Bäcker beim Hallenbad, was wiederum deutlich weiter weg war. Ein prüfender Blick auf seine Armbanduhr warnte Mathias, dass das verdammt knapp werden würde, wenn er seinen Bus nicht verpassen wollte. Er wog die Aussicht auf supergünstige Nussecken ab mit dem Risiko, schlimmstenfalls eine dreiviertel Stunde auf den nächsten Bus warten zu müssen

Simone bemerkte seinen inneren Kampf und ermutigte ihn. "Komm, das schaffst du doch locker, Bist schließlich sportlich!" Das gab den Ausschlag. Gier plus Eitelkeit hieß Ja. Und schon raste Mathias in einem irren Tempo los, Richtung Nusseckenglück.

Punkt 18 Uhr betrat Mathias keuchend den Laden.

"Sechs Nussecken, bitte!", keuchte er die verdutzte Verkäuferin an die schon den Schlüssel zum Absperren in der Hand hielt.

"Sechs Nussecken", wiederholte sie mechanisch die Bestellung und packte das Backwerk ein. Sie reichte Mathias die Tüte über den Tresen und hielt ihm erwartungsvoll ihre Hand hin. "Macht Vier Fünfzig."

"Ich habe gedacht, nur die Hälfte!", wunderte sich Mathias. "Junger Mann, das ist bereits die Hälfte", erwiderte die Verkäuferin leicht verärgert und zeigte auf die Schilder, auf der die Nussecken mit 1, 50 DM ausgezeichnet waren. "Nein, ich meine, dass der Preis kurz vor Sechs Uhr nochmals halbiert wird", bohrte Mathias nach, Simones zufrieden kauendes Gesicht vor Augen und ihre freundliche Information in den Ohren.

"Da hat Ihnen jemand aber einen gehörigen Bären aufgebunden!", lachte die Verkäuferin belustigt.

Und mit einem Schlag wusste Mathias, dass er auch in diesem Jahr am 1. April einem hinterlistigen Schelm auf den Leim gegangen war...

© 2000 Anja Gerstberger