Die bekehrte Babysitterin

"Muss ich denn unbedingt mit zu dieser blöden Betriebsfeier?", maulte Inka genervt. "Ich würde viel lieber zu Heikes Party! Auf die habe ich mich schon somlange gefreut!"

"Die Diskussion hatten wir bereits am Wochenende", erklärte ihr Vater bestimmt. "Du kommst mit wie alle Kinder der eingeladenen Mitarbeiter. Marie kommt ja auch mit. Ohne jegliches Herumzocken!" Marie war Inkas jüngere Schwester. Acht Jahre alt und meistens eine gehörige Nervensäge, die entweder neugierig in Inkas Privatleben herumschnüffelte oder sie als ihre persönliche Entertainerin benaspruchen wollte.

"Marie!", rief Inka verächtlch aus. "Marie ist ja auch ein Kind! In dem Alter fand ich solche Feste auch noch toll. Weil ich eben nichts Besseres vorhatte. Aber mit 16 gibt es wichtigere Dinge als langweilige Betriebsfeste!"

"Durchaus,", erwiderte Vater ungerührt, "nämlich die Einsicht in familiäre Verpflichtungen. Du wirst mitkommen. Basta."

"Scheiß Verpflichtungen!", entfuhr es der wütenden Inka.

"Inka!", rügte Vater die Wortwahl seiner Tochter und zog dabei die Stirn in tiefe Falten. Ein Gesichtsausdruck, der Inka in jahrelanger Erfahrung gelehrt hatte, dass Alarmstufe Rot im Anmarsch war und sie doch lieber den Rückzug antreten sollte.

"Vielleicht wird es ja viel netter, als du es dir jetzt vorstellst.", schaltete sich nun Mutter in die Auseinandersetzung ein. "Grillen macht doch Spaß! Am Abend kannst du dann tanzen. Außerdem gibt es keine Sitzordnung, so dass du freie Wahl bei den Leuten hast."

"Was mir bei dem tollen Angebot an Greisen und Babys unheimlich viel bringt!", murrte Inka. Dass sie mit den "Greisen" automatisch ihre Eltern mit einschloß, war ihr in diesem Augenblick überhaupt nicht bewusst.

Doch ihr Vater überging diese indirekte Beleidigung seiner Ältesten, weil er noch einen bitteren Nachschlag für sie parat hatte.

"Da wäre noch was, Inka.", begann er vorsichtig mit seiner unangenehmen Eröffnung. "Ich habe Frau Marquard, der neuen Mitarbeiterin aus der Buchhaltung versprochen, dass du dich ein bisschen um ihren Sohn Timmy kümmerst. Sie hat mich extra darum gebeten. Frau Schmitt muss ihr wohl erzählt haben, wie toll du mit ihren Kindern umgehst." Bei den Schmitts machte Inka seit etwas mehr als einem halben Jahr jedes zweite Wochenende Babysitter, um ihr Taschengeld aufzubessern.

"Na toll!", stöhnte Inka gefrustet und bedachte ihren Vater für seine Eröffnung mit einem zornigen Augenfunkeln. "Jetzt verpasse ich nicht nur Heikes Fete für ein spießiges Firmengrillen, sondern habe auch noch zwei Nervensägen am Hals. Marie und diesen Timmy! Da kann ich mch ja gleich einsargen lassen!"

Zumindest der köstliche Duft, der ihnen von der Grünanlage hinter den Bürogebäuden entgegenwehte, versprach Inka einen kleinen Trost.

Wenn sie schon in diesen sauren Apfel beißen musste, dann wollte sie wenigstens dadurch entschädigt werden, dass sie etwas Ordentliches zwischen die Zähne bekam. Das leckere Aroma nach Grillfleisch umwehte verführerisch Inkas Nase und ließ ihr umgehend das Wasser im Munde zusammenlaufen. Als ihr auch noch prompt der Magen knurrte, entschied sie sich dafür, sich sofort um ihr leibliches Wohl zu kümmern. Bevor Frau Marquard sie in die Finger bekam. Deren verzogener Balg Timmy konnte warten.

Inka steuerte zielstrebig auf den beeindruckend großen Barbecue-Grill zu und überlegte gerade, ob sie lieber ein Steak oder eine Hähnchenkeule nehmen sollte, als sie plötzlich einen Blick auf den "Grillmeister" erhaschte.

Bei seinem umwerfenden Anblick blieb sie wie angwurzelt stehen. Wow, der Typ sah vielleicht klasse aus! Altersmäßig gab sie ihm 17 oder 18, wahrscheinlich noch in der Ausbildung. Er war vielleicht einen Kopf größer als sie und ziemlich gut durchtrainiert, was seine imposanten, nackten Oberarme verrieten. Unter einer Baseballkappe quollen dunkelbraune Locken hervor, die auf geschickte Weise von seiner etwas zu groß geratenen Nase ablenkten.

Beim Gedanken an ihren eigenen kümmerlich dünnen Blondschopf seufzte Inka leise auf ob dieser tollen Lockenpracht. Na ja, dafür hatte sie eine ordentliche Figur und nicht so viele Pickel wie ihre Altersgnossen. Man kann eben nicht alles haben! So, jetzt noch einmal tief Luft holen und dann ran an das Traumexemplar! Hoffentlich würde sie sich vor Aufregung nicht verhaspeln oder gar ins Stottern geraten!

"Ich habe tierischen Kohldampf, weiß aber nicht, was ich nehemn soll!", eröffnete Inka das Gespräch. "Was würde denn der Chefkoch selbst empfehlen?"

"Der Chefkoch würde die knusprigen Chicken Wings oder das Lammkotelett empfehlen!", lachte der jugendliche Grillmeister vergnügt und blickte Inka direkt in die Augen. Seine ungalublich grünen Seen machten ihre ehemals festen Knie plötzlich butterweich. Rasch senkte Inka den Blick, um die aufsetigende Röte in ihrem Gesicht zu verbergen, und deutete auf das größte der brutzelnden Lammkoteletts. "Ich hätte gerne dieses, wenn es fertig ist!"

"Ist es garantiert", versicherte der sympathische Grillmeister und händigte Inka das gewünschte Fleisch aus. "Wünsche eine guten Appetit! Aber den scheinst du ja ohnehin zu haben!" Ein kurzes Lachen und schon war sein nächster Kunde König.

Was für ein sympathischer Junge! Inka war hin und weg. Vielleicht hatte sie später noch die Gelegenheit zu einem kleinen Flirt mit ihm. Später, wenn die Marwquards mit ihrem kleinen Timmy abgezogen waren und sie von ihren lästigen Babysitterpflichten befreit wäre.

"Da ist sie ja!", vernahm Inka die Stimme ihres Vaters. "Inka, hallo, hierher!"

Gehorsam drehte sich Inka in die Richtung, aus der das Rufen kam, und ging, ganz die brave Tochter, auf die Gruppe ihrer Eltern zu.

"Das ist unsere Inka!", stellte Vater sie dem Ehepaar neben sich vor. "Und das sind Herr und Frau Marquard!" Inka schätzte die Marquards einige Jahre älter als die eigenen Eltern ein. Der arme Timmy, war neben einer überfürsorglichen Mutter auch noch mit einem extrem alten Exemplar gesegnet. Inka bedauerte insgeheim den kleinen Kerl. Wo steckte dieser Timmy eigentlich? Marie war noch folgsam an Mutters Hand. Doch von Timmy keine Spur.

"Guten Tag!", begrüßte Inka höflich die Marquards und reichte ihnen die Hand.

"Hallo Inka! Was für ein hübsches Mädchen du bist!" Auch wenn Inka diesen Standardspruch von sämtlichen Kollegen ihres Vaters oder Eltern ihrer Freunde zu hören bekam, konnte sie sich noch immer über dieses nette Kompliment von Herrn Marquard freuen.

"Hallo Inka!" Frau Marquard sparte sich sonstige Höflichkeitsfloskeln und blickte sich stattdessen suchend um. "Ich kann unseren Timmy nirgends sehen! Ich möchte nur wissen, wo der Junge schon wieder steckt!"

"Ich hab ihn!", verkündete Herr Marquard, nachdem er mit seinen Augen rasch das Gelände überflogen hatte. "Er ist am Grill!"

Inka schaute neugeirig zum Grill, konnte dort aber keinen kleinen Jungen entdecken.

"Timmy!", rief Frau Marquard mit schriller Stimme. "Das gibt doch Fettflecken, wenn du nicht aufpasst! Dass dieser Junge sich auch gleich so ins Getümmel stürzen und den Grillmeister spielen muss!" Verständnisloses mütterliches Kopfschütteln.

Langsam fiel bei Inka der berühmte Groschen. "Dann werde ich mich mal wie versprochen um Ihren Timmy kümmern, Frau Marquard!", grinste sie und schlenderte Richtung Grill.

Wo ein unglaublich süßer Lockenkopf und ein vielversprechender Nachmittag auf sie warteten...


© 2000 Anja Gerstberger