Blind Date

„Das meinst du doch nicht ernst, oder?“ Jens schaute seinen Kumpel Torsten ungläubig an. Aber der Blick in das Gesicht seines besten Freundes verriet ihm, dass Torsten seinen Vorschlag durchaus ernst genommen hatte.

Er war für den morgigen Nachmittag mit einem unbekannten Mädchen verabredet und wollte nun, dass Jens statt seiner zu dem Blind Date ging.

„Du kannst doch jetzt nicht kneifen!“, empörte sich Jens. „Du hast dir die Suppe nun mal eingebrockt und wirst sie nun auch auslöffeln!“

Torsten blickte unglücklich drein. Er hatte sich das gesamte Wochenende über tierisch gelangweilt, da er wegen Jens‘ Familienpflichten – er war auf der Hochzeit einer Kusine gewesen – auf sich alleine gestellt war und nichts mit sich anzufangen gewusst hatte. Da er sich zu keiner Einzelaktion hatte aufraffen können, war Torsten die ganze Zeit über ziemlich sinnlos herum gehangen und hatte Radio gehört. Sogar die kitschige Kuppel-Sendung am Sonntagabend. Es musste ihn der Teufel geritten haben, dass er dort angerufen und sich mit einer netten jungen Stimme zu einem Blind Date verabredet hatte. Das morgen stattfinden sollte. Und jetzt traute er sich nicht mehr. „Dann geht eben keiner hin!“, erklärte er daher trotzig.

„Das kannst du aber nicht bringen!“, schimpfte Jens. „Das ist dem Mädchen gegenüber einfach nicht fair!“ So war Jens eben. Immer nett und höflich. Tat stets, was sich gehörte. Und dieser Charakterzug war schließlich auch ein Grund dafür, dass er und Torsten seit Kindergartentagen miteinander befreundet waren. Der zurückhaltende Torsten und der unternehmungslustige Jens. Ein tolles Gespann.

„Dann ruf sie wenigstens an und sage ab!“, verlangte Jens. „Das ist wohl das Mindeste! Wenn du jetzt schon feige den Schwanz einziehst!“ Die letzte Bemerkung hatte er sich aus Verärgerung über Torstens sprunghaftes Verhalten nicht verkneifen können.

„Das geht nicht!“, entgegnete Torsten zerknirscht. „Ich habe ihre Nummer nicht!“

„Wie bitte?“ Jens glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. „Ja, wie habt ihr dann euer Treffen organisiert?“, wollte er wissen. „Das hat alles der Sender übernommen.“, erklärte Torsten und fügte vorsichtig hinzu: „Die wollen ja auch nach dem Treffen mit uns ein Interview machen!“

Jens lachte spöttisch. „Mit uns!“ äffte er seinen Freund nach. Er schwieg für einen Moment und dachte nach. „Du musst hingehen!“, überlegte er laut. Torsten schüttelte wie auf Kommando den Kopf. „Also gut!“, gab sich Jens geschlagen. „Ich werde deinen Auftritt übernehmen.“ Torsten strahlte ihn dankbar an. „Dafür habe ich aber einiges gut bei dir, klar?“ Torsten nickte eifrig, während Jens sich insgeheim fragte, auf was er sich da wohl eingelassen hatte...

Sie müsste eigentlich jeden Moment kommen. Jens blickte sich suchend um. Er war bereits zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit im Café Reuter gewesen und wartete nun auf das unbekannte Mädchen, von dem er nur wusste, dass es Anna hieß. Über das Aussehen durften die Kandidaten vor dem Blind Date nie sprechen. So lauteten die Regeln des Radiosenders. Jens schaute auf die Uhr. Genau Drei. Wo blieb sie denn nur? Das Café war um diese Zeit ziemlich voll und er hatte gerade noch den letzten freien Tisch ergattern können. Er war überrascht, so viele junge Leute hier anzutreffen. Er hatte bisher Cafés immer für einen Treffpunkt Torten schaufelnder Rentner gehalten. Da an der Tür saß zum Beispiel ein hübsches Ding. Mit lustiger Stupsnase und dunklen Kulleraugen. Dazu ein wippender Pferdeschwanz. In Jeans und Holzfällerhemd. Ganz sportlich. Genau sein Typ. Ebenfalls allein. Ob sie wohl auf ihre beste Freundin wartete? Oder auf ihren Freund? Garantiert Letzteres. Bestimmt war solch eine süßes Ding längst vergeben. Zwei Tische weiter saßen auch zwei Mädchen im passenden Alter. Die eine war extrem aufgetakelt mit superkurzem Mini und kiloweise Farbe im Gesicht, von der anderen konnte er nur den Oberkörper sehen. Und der sprach ihn nicht gerade an. Üppige Brüste in einen engen Body gequetscht. Tief ausgeschnitten. Jens mochte es nicht, wenn Mädchen, auch wenn sie so gut gebaut waren wie diese, ihre Reize so auffallend zur Schau stellten. Wo keine Geheimnisse waren, verflog der Zauber automatisch, fand Jens. Bildete er es sich nur ein oder hatten ihn die beiden Grazien tatsächlich im Visier? Rasch schaute er weg. Und kurz darauf wieder hin. Aus den Augenwinkeln. Oh Nein, dachte er, sie hat ihre Freundin zur Verstärkung mitgebracht! Die mit dem Mini war die hübschere, also war die andere wohl seine Blind-Date-Kandidatin. Er seufzte. Sie gefiel ihm nämlich überhaupt nicht. Außer ihrem tiefen Ausschnitt fand er auch ihre blonde Dauerwellfrisur nicht sonderlich hübsch. Und ihr Gesicht sah irgendwie langweilig aus. Fast ein wenig griesgrämig. Ob das wohl ihre Angst war? Nun gut, er würde das Ganze mit Anstand hinter sich bringen, doch innerlich verfluchte er Torsten, der ihn in diese unangenehme Situation überhaupt erst hineinmanövriert hatte

„Bist du Torsten?“, riss Jens eine junge weibliche Stimme aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah in das fragende Gesicht mit den Kulleraugen. Die aus der Nähe noch viel riesiger wirkten, wie er fasziniert feststellte. „Nein, äh, doch!“, stammelte Jens verwirrt und brauchte einen Augenblick, um sich wieder im Griff zu haben. Er stand auf und reichte dem lustigen Pferdeschwanz die Hand. Mensch, war die zierlich! So klein und so dünn! „Dann bist du die Anna, stimmt‘s!“ Er lachte sie fröhlich an. Und seine gute Laune war echt.

„Ich muss dir gleich was erklären“, begann Anna, kaum dass sie Platz genommen hatte und die Bedienung nach ihrer Bestellung wieder verschwunden war. „Weil in einer Stunde ja schon die Leute vom Radio da sind und wir uns was überlegen müssen!“

Was erzählte die denn für ein wirres Zeug? Jens verstand nur Bahnhof.

„Ich möchte dir nämlich keine falschen Hoffnungen machen!“, fuhr Anna fort. „Nicht, dass du dich hinterher beschwerst, ich hätte dich nicht rechtzeitig aufgeklärt.“ Sie nestelte verlegen an ihrer Serviette herum und wirkte dabei ziemlich nervös.

„Ich bin schon längst aufgeklärt.“, versicherte Jens und meinte es wörtlich. Ein kleiner Witz konnte nie schaden. Und würde das verrückte Huhn vor ihm vielleicht etwas normalisieren.

„Wieso kannst du schon Bescheid wissen, wenn Anna deine Telefonnummer überhaupt nicht hat?“, entfuhr es der vermeintlichen Anna überrascht. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Mist! Jetzt hatte sie sich verraten! Ihre unüberlegte Äußerung hätte Jens möglicherweise noch überhört, aber bei ihrem auffälligen Verhalten stutzte er. Nur kurz. Bis der Groschen bei ihm gefallen war. „Du bist gar nicht Anna, sondern jemand anders, habe ich recht?“, fragte Jens seine sympathische Tischgenossin, deren Gesichtsausdruck nun zwischen Erleichterung und Unbehagen hin und her pendelte. „Ich heiße in Wahrheit Birgit“, erklärte sie leise.

Als Jens sie fröhlich angrinste, atmete Birgit befreit auf. Sie hatte nämlich riesige Angst davor gehabt, dass der betrogene Kandidat auf ihren Schwindels total sauer reagiert. Und das zu recht, wie Birgit fand. „Du bist wirklich nicht böse?“, fragte Birgit nach, weil sie sich vergewissern wollte, dass alles in Ordnung war. Der Junge machte einen so netten Eindruck auf sie, dass es ihr richtig leid tat, dass sie ihn belogen hatte. Wenn Anna wüsste, welch Prinz ihr da entgangen ist! Was ist denn nur in ihn gefahren, wunderte sich Birgit, als Jens in lautes Gelächter ausbrach und ihm vor lauter Lachen die Tränen über sein Gesicht liefen.

„Das ist zu komisch!“, japste er und schnappte nach Luft. „Ich bin nämlich auch nicht der Torsten, sondern der Jens!“ Und schon prustete er wieder los und hielt sich den Bauch vor Lachen. Um so mehr, als Birgit ihn nun wie ein Auto anstarrte.

„Jens? Aber wieso?“, stammelte sie verwirrt, weil sie jetzt diejenige war, die nur noch Bahnhof verstand.

„Mein Freund Torsten hatte Muffensausen bekommen und mich zu seiner Verabredung vor geschickt.“, klärte Jens die sichtlich verstörte Birgit auf. Die daraufhin für einen kurzen Moment innehielt, überlegte und schließlich zufrieden lächelte.

„Und meine Freundin Anna hatte plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen und mich gebeten, ihren Part zu übernehmen. Wegen der Leute vom Radio.“ Auf das Stichwort Radio hin schaute Jens rasch auf seine Armbanduhr. „Die in einer halben Stunde hier aufkreuzen werden.“, stellte er fest. „Und was erzählen wir denen nun?“, wollte er von Birgit wissen.

„Dass wir uns gut verstehen, vielleicht?“, schlug diese zaghaft vor und wurde dabei rot. Ihr gefiel Jens und warum sollten sie die Gelegenheit nicht nutzen, sich ausgiebiger zu beschnuppern, wo sie schon beide den Kopf für ihre flüchtigen Freunde hingehalten haben? Vorausgesetzt, Jens wollte sie ebenfalls näher kennen lernen.

„Eine verdammt gute Idee!“, meinte Jens und griff nach Birgits Hand. „Die werden total begeistert sein, wenn sich bei ihrer Kuppelsendung tatsächlich mal Zwei gefunden haben!“

Wer von beiden nun tiefer in die Augen des anderen blickte, wird wohl nie mehr geklärt werden können...



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