Dancing Queen
"Versprochen?" Kirstens eindringlicher Tonfall und Blick duldeten keinerlei Widerspruch.
"Versprochen", seufzte Vera mit wenig Begeisterung. "Prima!", freute sich Kirsten und verabschiedete sich wie immer mit einer kurzen Umarmung von ihrer besten Freundin. "Du wirst sehen, das gibt eine Riesengaudi. Die beste Party des Jahres!" Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. "Und dir wird es auch gut tun, endlich mal wieder aus deinem Schneckenhaus hervor zu kriechen!" Sprach´s und ließ eine überrumpelte Vera zurück, die keine Zeit mehr gefunden hatte, auf ihre letzte Bemerkung ein entsprechende Antwort zu geben.
Vielleicht hatte Kirsten ja tatsächlich Recht mit dem Schneckenhaus. Seit sie ihren Freund Mark, mit dem sie immerhin über ein Jahr zusammen gewesen war, bei einem Überraschungsbesuch mit einem anderen Mädchen äußerst beschäftigt auf einer Picknickdecke im elterlichen Garten erwischt und sich danach von ihm getrennt hatte, war Vera kaum mehr ausgegangen. Zu tief waren die Wunden, die diese demütigende und so unendlich schmerzhafte Erfahrung in ihre Seele gerissen hatten. So wollte sie nur noch ihre Ruhe haben und möglichst wenig zu tun mit anderen Leuten. Schon gar nicht mit Vertretern des männlichen Geschlechts. Auch den Anblick glücklich turtelnder Liebespaare konnte Vera nicht ertragen und so hatte sie sich immer stärker abgekapselt. Um sich vor unangenehmen Erlebnissen zu schützen und nicht unnötig zu quälen. Ihre Familie hatte sich zwar sehr um die leidende Vera bemüht, aber außer ihrer besten Freundin Kirsten war niemand an sie ran gekommen. Nur Kirsten konnte sie gelegentlich etwas aufmuntern und zu einer Unternehmung mit schleppen.
Darum konnte sie Kirsten am Samstag auch nicht enttäuschen. Sie und ihr Zwillingsbruder Hendrik feierten gemeinsam ihren 17. Geburtstag mit einer Mega-Fete. Über 40 Leute sollten kommen! Es gab sogar eine Kleiderordnung: Für die Jungens waren Jeans verboten und "ordentliche" Hosen angesagt, während die Mädchen ein Kleid anziehen sollten. Der besseren Optik beim Tanzen wegen und natürlich auch passend zur Musik. Es war nämlich Oldieabend angesagt. Alte Hits im Original und aufgepeppte Rap- und Tecnoversionen der betagten Songs. Eigentlich war Vera schon gespannt, wie der Abend verlaufen und beim Publikum ankommen würde. Wer weiß, vielleicht würde es doch ganz lustig werden?
"Na, endlich, ich habe schon gedacht, du würdest mich hängen lassen!", rief Kirsten erleichtert aus, als sie Vera am Samstag Abend die Tür öffnete. "Du bist tatsächlich schon die Letzte!"
Vera blickte kurz auf ihre Uhr. Zwanzig Minuten nach Acht. Um Acht hatte die Fete begonnen. Sie war absichtlich einen Tick zu spät gekommen, weil sie nichts mehr hasste, als bei irgend welchen Veranstaltungen zu den ersten Gästen zu zählen und dann wahlweise doof herumstehen oder sich notgedrungen mit lausigen Gesprächspartnern abgeben zu müssen.
"Du siehst klasse aus!", bewunderte Vera ihre Freundin, die ein auffallend pinkfarbenes Kleid mit einem Petticoat trug und ihre schwarzen halblangen Haare originalgetreu zur damaligen Mode toupiert und die aufgebauschte Pracht mit viel Haarspray fixiert hatte. Sie selbst hatte sich für das pfirsichfarbene Kleid, das sie zu ihrem Tanzstundenabschlussball bekommen hatte, entschieden und ihren blonden Haare lediglich mit einem farblich abgestimmten Haarreifen verschönert. Das große Aufbrezeln lag Vera nicht, ihr reichte da schon das Theater bei ihren Auftritten.
"So, aber jetzt zur Schlacht ans kalte Buffet!", zog Kirsten ihre Freundin endgültig ins Haus. "Und anschließend die Kalorienberge brav abtanzen!" Sie lachte Vera fröhlich an. Die wiederum konnte nicht anders, als in Kirstens ansteckendes Lachen einzustimmen und sich danach von ihr zu den zahllosen Köstlichkeiten zerren zu lassen. Wenigsten war Kirsten so gnädig gewesen, ihr die endlose Vorstellerei bei den fremden Gästen zu ersparen.
Die Party war seit zwei Stunden in vollem Gange. Wie von Kirsten befohlen, hatte sich Vera zunächst mit etlichen verführerischen Leckereien von dem üppigen Buffet versorgt und sich dann mit einzelnen Leuten aus Kirstens Bekanntenkreis unterhalten. Von Hendriks Seite kannte sie kaum jemanden, denn die Zwillinge besuchten unterschiedliche Schulen und gingen auch jeweils anderen Hobbys nach. Kirsten zog es mehr zum Sport, Hendrik dagegen zur Musik. Vera hatte bereits zwei seiner Bandmitglieder entdecken können und sie war sich sicher, dass auch der Rest der Gruppe anwesend war. Wenigstens hielt sich die Zahl der knutschenden Pärchen bisher in angenehmen Grenzen, stellte Vera erleichtert fest. Doch sie vermutete, dass sich das zu fortgeschrittener Stunde garantiert ändern würde, wenn sich bei der lockeren Stimmung das eine oder andere neue Pärchen finden würde. Sie würde sicher nicht dazu gehören, war Vera überzeugt, denn sie hatte vor, nach einer angemessen langen Anwesenheit bald die Kurve zu kratzen und das feiernde Volk sich selbst zu überlassen. Die Veranstaltung würde ihren Verlust sicher verkraften können, bemerkte Vera für sich mit etwas Wehmut. Wenn auch nur ein klitzekleines Stück.
"Zeit für Party-Spiele!", übertönte plötzlich Hendriks mächtiges Organ das allgemeine Party-Gemurmel, nachdem er zuvor bereits die Musik abgedreht hatte.
Die Reaktionen des Volkes reichten von vergnügtem Quieken bis hin zu genervtem Stöhnen. Erstere entstammten vornehmlich von Damenmündern, die Missfallenslaute dagegen kamen fast nur von den Herren. Mit Ausnahme von Vera, der auch nicht gerade der Sinn nach ausgelassenen und meist ziemlich albernen Spielchen stand. Sie verfluchte sich innerlich, dass sie sich nicht schon längst verkrümelt hatte. Jetzt war es dazu natürlich zu spät, denn sie würde beim Davonschleichen auffallen wie ein bunter Hund. Nun gut, sie würde auch das irgendwie überleben!
"Die Spiele laufen über mehrere Runden", erklärte Kirsten gerade den mehr oder weniger freiwilligen Teilnehmern, "und am Ende steht dann zwei Sieger fest, das einen Preis gewinnt" Überraschte Ahs und anerkennende Ohs. Wow, Preise! Das gab es auf Partys eher selten.
"Das Siegerpaar wird einen Gutschein für ein Drei-Gänge-Menü bei Enrico gewinnen!", verkündete Kirsten voller Stolz den großzügigen Preis. Die Ahs und Ohs wurden noch eine Spur lauter. Enrico war nämlich das teuerste italienische Restaurant in der Stadt und für normalsterbliche Teenager so gut wie unerschwinglich. Die Aussicht auf solch ein edles Vergnügen war sogar für die Spielemuffel eine echte Motivation. Nun würden sich sicher alle mächtig ins Zeug legen, vermutete Vera. Sie eingeschlossen.
"Als erstes müsst ihr Paare bilden!", befahl Hendrik der Gästeschar. "Immer ein Mädchen und ein Junge spielen zusammen. Ihr könnt euch eure Partner frei wählen!" Vera stöhnte gedanklich. Klar, dass die Liebespaare zusammen blieben. Auch klar, dass die ersten Banden, die an diesem Abend geknüpft worden waren, nun vertieft werden würden. Pech für sie, dass sie bisher nicht mit geknüpft hatte und zur gerechten Strafe bestimmt übrig bleiben würde! Vera blickte sich suchend um, konnte aber keinen "freien" Jungen mehr entdecken. Es sah ganz danach aus, als ob sie zu Zuschauerrolle verdammt wäre.
"Spielen wir beide zusammen?", hörte Vera plötzlich in ihrem rechten Ohr und wandte sich in die Richtung, aus der die fragende Stimme gekommen war. Sie blickte in das sympathische Gesicht eines Jungen, der ihr bisher noch nicht aufgefallen, ihr aber irgendwie bekannt vorkam. Wo hatte sie diesen Schlaks mit dem braunen Lockenkopf schon mal gesehen?
"Gerne!", hörte sie sich antworten, während sie weiter grübelte.
"Wir fangen mit dem Einzelspiel der Herren", läutete Kirsten die Spielerunde ein und riss Vera damit aus ihren Gedanken, "Luftballonaufblasen!" Jubelrufe und Entsetzensschreie hallten nach dieser Ankündigung durcheinander. Matthias, so hatte sich Veras Partner ihr noch kurz vorstellen können, bevor ihm Hendrik seinen Luftballon in die Hand gedrückt hatte, wurde stolzer Zweiter und ergatterte dafür 50 Punkte. In der anschließenden Damenrunde stand ihm Vera in nichts nach und holte beim Mohrenkopfwettessen ebenfalls den zweiten Platz. Wieder 50 Punkte. Damit lagen Vera und Matthias bereits deutlich in Führung. Was würde ihnen nun im Partnerspiel abverlangt werden? Natürlich Tanzspiele!
Die erste Aufgabe der Tanzpaare bestand darin, einen aufgeblasenen Luftballon zwischen ihren Körpern möglichst schnell zum Platzen zu bringen. Da ihnen eine grinsende Kirsten einen nicht besonders prallen Luftballon, sozusagen als Handicap für das in Führung liegende Paar, gegeben hatte, den sie bei aller Anstrengung nicht kaputt kriegen konnten, wurden Vera und Matthias diesmal nur letzte und ihr Vorsprung schmolz dahin. Beim Orangentanz wurden sie vom Verfolgerpaar geschickt angerempelt und aus dem Verkehr gezogen. Nun war die Führung futsch. Schade! Vera hatte sich insgeheim schon auf einen netten Abend mit Matthias bei Enrico gefreut. Ob sie beim letzten Spiel noch einmal das Ruder herum reißen könnten?
"Die letzte Aufgabe ist natürlich die schwierigste!", drohte Hendrik an und hatte plötzlich seine Eltern an seiner Seite stehen, die in der entscheidenden Runde die Rolle der Schiedsrichter übernehmen sollten.
"Ihr werdet zu einer vorgegebenen Musik tanzen und meine Eltern die besten Darbietungen bestimmen!" Kirsten grinste. "Natürlich ein extra schwieriger Tanz!", spannte sie die neugierigen Kandidaten auf die Folter. "Ein bayerischer Schuhplattler!", vermutete Jörg in seiner typisch witzigen Art. Allgemeines Gejohle. "Nein", lachte Kirsten spitzbübisch. "Viel schlimmer! TANGO!"
Entsetzensschreie all überall. Außer bei Vera, die in einem Tanzsportverein tanzte und daher sämtliche Standardtänze beherrschte. Sie bedauerte, dass sie nicht mit ihrem gewohnten Tanzpartner tanzen konnte, denn dann wäre ihnen der Sieg sicher gewesen. Matthias sah nicht so aus, als ob er mit einem Tango sonderlich viel anfangen könnte!
Doch nach den ersten Takten wurde Vera eines Besseren belehrt und sie hätte vor lauter Verblüffung beinahe das Atmen vergessen. Matthias konnte nicht nur die Grundschritte, sondern auch ausgefallenere Schrittkombinationen und viele Figuren. Außerdem war er der perfekte Führer, der seine Partnerin stets sanft, aber dennoch bestimmt zeigte, was sie zu tun hatte. Vera gab sich völlig diesem unerwarteten Tanzgenuss hin und so legten sie eine wahrlich heiße Sohle aufs Parkett. Gekrönt von einer dramatischen Schlusspose. Erst da merkte Vera, dass am Ende außer ihnen keiner mehr getanzt, sondern alle ihnen gebannt zugeschaut hatten. Tosender Beifall holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück.
"Der Sieg geht an Vera und Matthias!", rief Kirsten mit zufriedenen Miene und überreichte den beiden einen liebevoll verzierten Umschlag mit dem begehrten Gutschein. Sie gratulierte beiden und hauchte ihnen ein Bussi auf die Wange. Was sie Matthias dabei ins Ohr flüsterte, konnte Vera nicht verstehen. Aber sie würde Kirsten später unbedingt danach fragen, denn Matthias Gesicht hatte anschließend eine deutlich rote Färbung angenommen.
Und Matthias? Der würde Vera bei einer passenden Gelegenheit gestehen, dass er sich bei einem Wettbewerb seines Tanzsportclubs in das hübsche blonde Mädchen aus den Reihen seiner Gegner verliebt hatte und zusammen mit den Zwillingen, bei denen er Vera zufällig auf einem Klassenfoto von Kirsten entdeckt hatte, diesen Plan mit den Tanzspielen ausgeheckt hatte, um an seine Traumfrau heran zu kommen.
Was das Tanzen betraf, passten er und Vera bereits optimal zusammen und den Rest würde er noch heraus finden...
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