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Ein dufter Typ
"Man hört sie nicht, man sieht sie nicht, aber man RIECHT sie!", schmetterte Kevin, das Großmaul der 9a und erntete dafür das belustigte Gelächter seiner Mitschüler.
Es war Donnerstagmorgen, kurz vor acht Uhr im Klassenzimmer, wo die Meute die letzten kostbaren Momente vor Unterrichtsbeginn zu verzweifelten Lernversuchen, riskantem Abschreiben, Klatschgeschichten oder Blödeleien jeglicher Art.
Kevin war bekannt für seine coolen und meist auch fiesen Sprüche und seine Bemerkung bezog sich auf Isabel, die neue Mitschülerin, die erst vor wenigen Wochen zu ihnen gestoßen war und bisher noch nicht sehr viele Freunde gefunden hatte. Was vielleicht auch daran lag, dass sie, aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus stammte, was sich in extrem teurer, allerdings überaus geschmackvoller Kleidung, perfekter Frisur und Make-up und eben auch der Verwendung eines kostbaren Parfüms äußerte. Und dass sich ein Mädchen in der Klasse regelmäßig und mit solch souveränen Selbstverständlichkeit parfümierte, hatte es bis zu Isabels Erscheinen nicht gegeben. Kein Wunder, dass die Jungen blöde Kommentare abgaben, die außerdem nicht gerechtfertigt waren, denn Isabel setzte ihren Duft stets sehr zurückhaltend ein. Ebenfalls kein Wunder, dass die Mädchen von so viel Perfektion eingeschüchtert und abgeschreckt wurden und sich daher Isabel gegenüber bisher ziemlich zurückgehalten haben, um sich nicht als dumme Provinzgänse zu outen, die vom Leben einer tollen Frau keine Ahnung haben.
"Lieber ein Mädchen mit Designerduft als ein Kerl mit Eigenmarke!", entgegnete Nina in einer Mädchentraube auf Kevins hohle Bemerkung. Gerade laut genug, dass er es hören konnte, aber auch so leise, dass der Sprücheklopfer vor seinen Kumpels so tun könnte, als ob nicht und damit sein Gesicht zu wahren. Seinem bösen Blick und dem belustigten seines Banknachbarn Jan nach - er zählte zu den sympathischeren Vertretern seines Geschlechts- nach entnahm Nina, dass ihre Verteidigung Isabels sehr wohl in der Herrenwelt angekommen war.
Nina war eine der wenigen, die offen zugab, dass sie Isabel eigentlich recht nett fand. Insgeheim hätte sie auch nichts dagegen, Isabel näher kennenzulernen, um sich mit ihr vielleicht sogar richtig anzufreunden. Isabel könnte nämlich gut die Lücke ausfüllen, die ihre ehemalige Freundin Andrea nach ihrem Umzug in eine süddeutsche Stadt hinterlassen hatte.
"Ich glaube, ich werde mir auch einen Duft zulegen!", meinte jetzt Tatjana, eine der Mädchen, die bei den übrigen den Ton angaben.
"Würde ich auch gerne, aber die sind leider sündhaft teuer!", seufzte Nina.
"Dann musst du dir eben ein Parfüm schenken lassen!", erwiderte Annika.
"Für so einen Firlefanz in meinem Alter haben mein Eltern kein Verständnis!", bedauerte Nina.
"Natürlich von einem MANN!", belehrte sie Annika, worauf alle Mädchen im Kreis in herzhaftes Gelächter ausbrachen.
Dass dieses kurze Gespräch von der Jungenclique durchaus mit Interesse verfolgt worden war, konnten die Mädchen ja nicht ahnen.
Warum müssen die Verkäuferinnen in einer Parfümerie immer nur so verdammt hübsch sein? Und perfekt frisiert und geschminkt sowieso, dazu noch die angesagtesten Klamotten?
Nina fand das einfach ungerecht und sie hätte am liebsten auf der Stelle kehrt gemacht. Sie sollte ihrer Mutter eine bestimmte Creme besorgen, sündhaft teuer, aber Hoffnungen verkaufen sich auch zu horrenden Preisen, dachte Nina und fragte sich, ob sie als Frau in mittleren Jahren ebenfalls dem Jugendwahn verfallen würde. Sie wollte die Gelegenheit nutzen, an den Parfümproben der neuesten Düfte herum zu probieren. Leisten konnte sie sich die teuren Wässerchen zwar nicht, aber ein wenig Testschnuppern durfte doch wohl noch erlaubt sein, oder?
Als sie mit dem Zettel in der Hand, auf dem der französische Name von Mamas Wundercreme stand, suchend die Regalreihen abklapperte, hörte sie plötzlich ein nur allzu vertraute männliche Stimme. Das war doch, nein, das konnte nicht sein, ER in einer Parfümerie?!?
Vorsichtig lugte Nina um die Regalecke und tatsächlich, da stand ihr Klassenkamerad Jan vor den Parfüms in Begleitung eines etwa gleichaltrigen Mädchens. Eines hübschen Mädchens, wie Nina zu ihrem Missfallen registrierte. Na ja, was hatte sie denn erwartet? War doch nur logisch, dass so nette Boys, wie Jan einer war, auch eine Freundin hatten. Da ihr die Situation unangenehm war und sie auf ein Zusammentreffen mit dem Pärchen gerne verzichten wollte, hielt sich Nina weiterhin hinter ihrem schützenden Regal versteckt und beobachtete die beiden bei ihrem Einkauf.
Das war ja richtig romantisch! Erst sprühte Jan dem Mädchen einen Duft auf die Hand, danach auf den Hals, um sich anschließend persönlich vom Ergebnis zu überzeugen und ein Urteil zu fällen. So schnupperte er erst an dem Handgelenk seiner Begleiterin, danach an ihrem Hals. Das Mädchen lachte, sicher, weil Jans Schnuppern sie kitzelte, vermutete Nina. Anschließend das Ganze umgekehrt. Sie besprühte Jan und hielt ihr Näschen an seine betroffenen Körperstellen.
Diese vertrauliche Szene versetzte Nina einen kleinen Stich und sie musste sich eingestehen, dass sie auf das unbekannte Mädchen an Jans Seite eifersüchtig war. Anscheinend hatte es erst dieses Erlebnisses bedurft, um sie über ihre Gefühle für Jan aufzuklären. Ja, gab Nina zu, sie war verknallt in Jan, aber leider vergebens, denn er schien ja bereits vergeben.
Schließlich hatten die beiden sich für ein Parfüm entschieden und kauften die Minitaurausgabe als Eau de Toilette des Duftes "Eden", wie Nina von ihrem Spähposten aus feststellen konnte. Der Mini-Flakon war okay, fand Nina, schließlich verfügten Jugendliche in ihrem Alter nicht über so viel Geld wie die Erwachsenen, die sich eben auch die großen Flakons für ihre Damen leisten konnten.
Ob der Name bei der Wahl wohl eine Rolle gespielt hatte? Eden, wie sinnig! Das Paradies. Nun, von dem war sie, Nina ja meilenweit entfernt!
Eine Woche nach ihrem Parfümeriebesuch hatte Nina Geburtstag.
Da in ihrem Klassenzimmer ein spezieller Kalender mit den Geburtstagen aller Schüler hing, konnte niemand aus seinem Festtag ein Geheimnis machen, sondern musste sich ihm, mit allem was dazu gehörte, stellen.
Das Schöne waren die Glückwünsche der Klassenkameraden, die kleinen Geschenke der engeren Freunde und die Tatsache, am entsprechenden Tag von den lästigen Hausaufgaben befreit zu sein. Ein großzügiges Angebot ihres Klassenlehrers, der seinen Beitrag dazu leisten wollte, dass jedes Geburtstagskind seinen Ehrentag auch gebührend feiern konnte.
Weniger schön bzw. etwas kostspielig war der "Brauch", dass das Geburtstagskind seinen Mitschüler etwas Leckeres ausgeben musste. Die Palette reichte hier über die obligatorischen Mohrenköpfe, Schokoriegel, Partygebäck oder selbst gebackenen Kuchen einer liebenden Mutter.
Nina hatte sich für Schokomuffins entschieden und selbige am Vortag gemeinsam mit ihrer großen Schwester gebacken.
Isabel war die erste Gratulantin. "Alles Gute zum Geburtstag!", wünschte sie und drückte Nina ein winziges Schächtelchen in die Hand. Das war doch die Gelegenheit! Komm, Nina, spring jetzt mal über deinen Schatten und sei nicht so schüchtern!
"Hast du Lust, mich heute Nachmittag zu besuchen, um mir bei der Familien-Tortenschlacht beizustehen?", fragte Nina.
"Gerne!", freute sich Isabel. "Aber ich warne dich, ich kann Unmengen von Kuchen verdrücken!"
"Das dürfte bei der Backwut meiner Mutter das geringste Problem sein!", antwortete Nina. "Ich freue mich, dass du kommst!"
Und ihre Freude war mindestens genauso echt wie die von Isabel.
Als Nina daheim ihre Jacke auszog und an der Garderobe aufhängte, bemerkte sie, dass die aufgesetzte Brusttasche etwas ausgebeult war.
Hatte sie etwa dort ihr blaues Stirnband hinein gesteckt, nach dem sie schon seit Tagen verzweifelt suchte? Nein, es war etwas Hartes. Neugierig öffnete Nina den Reißverschluss und fand ein kleines Päckchen. Woher kannte sie nur das Geschenkpapier?
Hastig wickelte sie das Päckchen aus. Vor ihr lag der Parfüm-Mini "Eden" und ein Kärtchen mit der Aufschrift. "Für ein duftes Mädchen!"
Ninas Herz klopfte bis zum Hals. Jan hatte den Duft für SIE, Nina, gekauft?!?
Vorausgesetzt, Jan war tatsächlich der anonyme Absender. Um das herauszufinden, musste sie ihn wohl selbst fragen.
Aufgeregt griff Nina zum Telefonhörer und wählte Jans Nummer, die sie längst auswendig kannte, aber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewählt hatte.
"Jan Schneider."
Nina atmete auf, bei seinen Eltern hätte sie vermutlich aufgelegt. "Vielen Dank für dein Geschenk!", erwiderte sie statt ihren Namen zu nennen.
"Oh, du bist´s." Kurze Pause. Sicher ist er jetzt rot geworden. "Wie bist du so schnell auf mich gekommen?"
"Ich habe dich in der Parfümereie gesehen, als du den Duft gekauft hast. Zusammen mit einem hübschen Mädchen!", setzte Nina lauernd hinzu.
"Das war meine Cousine Esther", erklärte Jan, "schließlich war ich ja auf fachmännische Unterstützung angewiesen!" Wieder Pause.
Komm, Nina, sei kein Feigling und fass dir ein Herz! "Wenn du willst, kannst du Isabel und mir heute bei der Kuchenschlacht helfen. Ellen, Cornelia und Sascha kommen auch." Die Genannten gingen allesamt in ihre Klasse.
"Wann?", erkundigte sich Jan statt eines Ja.
"Um Vier Uhr."
"Was dagegen, wenn ich schon eine Stunde früher komme?"
"Prima Idee! Bis gleich!" Beschwingt legte Nina auf und tanzte jubelnd durchs Zimmer, worauf ihr Kater Kasimir verschreckt das Weite suchte und in das Wohnzimmer flüchtete.
Warum hatte ihr bisher niemand gesagt, wie einfach es war, eine Verabredung zu treffen?
© Anja Gerstberger, Bild: © Corel Gallery Draw, verwendet in Lizenz
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