Ein wandelbares Mädchen
"Hey, kannste nicht aufpassen!?!", empörte sich der Junge, den Tatjana über den Haufen gerannt hatte, als sie den Gehsteig entlang spurtete, um ihren Frisörtermin statt um geschlagene vierzig Minuten vielleicht nur um 40 zu überschreiten. Als ob das deutlich weniger "zu spät" gewesen wäre!
Sie hatte fast die gesamte Strecke von der Bushaltestelle im Laufschritt zurück gelegt und bisher das Glück gehabt, dass aus den zahllosen Geschäften, an denen sie in einem Affenzahn vorbei hetzte, kein Kunde auf den Gehsteig getreten war und ihren Weg gekreuzt hatte. Zumindest bis eben. Bis wenige Meter von ihrem Ziel entfernt dieser Typ aus der Bäckerei gekommen und mit ihr zusammen geknallt war. Und zwar mit einer solchen Wucht, dass ihm seine Quarktasche in hohem Bogen aus der Hand auf das Pflaster geflogen war.
"Tschuldigung!", rief Tatjana, kramte kurz in ihrer Hosentasche und beförderte ein Zweimarkstück zu Tage, das sie eigentlich als Trinkgeld eingesteckt hatte, ihm aber nun mit den Worten "Kauf dir ´ne neue!" in die Hand drückte. Ehe sich´s Kai versah und ein Dankeschön los werden konnte, war das ungestüme Mädchen auch schon wieder weg. Eine immer kleiner werdende tannengrüne Jacke, auf der sich ein langer blonder Zopf schlängelte, war das Letzte, was er von ihr sah.
Er zuckte mit den Schultern, hob die verunglückte Quarktasche auf und beförderte sie in den nächsten Abfallkorb, bevor er ein zweites Mal in die Bäckerei marschierte, um sich zwei neue Teilchen zu kaufen. Das Geld reichte für zwei, weil sein Lieblingsgebäck diese Woche im Sonderangebot war. Kai grinste. Da hatte sich der Zusammenstoß für ihn ja richtig gelohnt!
"Bist du dir auch vollkommen sicher?", vergewisserte sich Martin bei Tatjana, die mit umgebundenen Frisierumhang vor ihm saß, bereits zum dritten Mal.
Martin war der jüngste Bruder ihrer Mutter und gleichzeitig ihr Patenonkel. Seit ihr Haarschopf der gelegentlichen Korrektur eines Figaros bedarf, war Tatjana stets in den Salon ihres Onkels gegangen, der ihre Wünsche bisher auch immer prompt und zu ihrer vollen Zufriedenheit erfüllt hatte. Bis heute. Mit ihrem Wunsch nach einer flotten Kurzhaarfrisur schien er sich partout nicht anfreunden zu wollen. Daher zum dritten Mal seine Nachfrage.
"Ich spiele wirklich schon länger mit dem Gedanken", entgegnete Tatjana sichtlich genervt, "und habe mindestens zehnmal darüber geschlafen. Meine Entscheidung steht endgültig fest: Die Haare kommen ab!" Sie unterstrich ihre Entschlossenheit mit einer entsprechenden Handbewegung, bei der ihre Finger den Part der Schere übernahmen.
"Gut, es ist schließlich deine Sache!", seufzte Martin ergeben, der Tatjanas wunderschönem taillenlangen Haar schon jetzt nachtrauerte. "Weiß Karin Bescheid?", startete er kurz darauf einen erneuten Versuch, Tatjana von ihrem Entschluss abzubringen. Karin war ihre Mutter.
"Vergiss es!", grinste Tatjana ihren Onkel an, da sie sein plumpes Manöver sofort durchschaut hatte. "Erstens bin ich diejenige, die sich hier deiner Meinung nach verunstalten lässt, und zweitens habe ich sie über meine Absicht informiert!"
"Und?", wollte Martin in hoffnungsvollem Tonfall wissen, sich verzweifelt an den letzten Strohhalm klammernd. "Sie ist gespannt darauf, wie ich anschließend aussehen werde!", lachte Tatjana ihren zerknirschten Onkel an. "Ich übrigens auch!"
"Nun", ergab sich Martin in sein Schicksal, ,,dann wollen wir das Abenteuer mal angehen!"
Als Tatjana eine Stunde später Martins Salon verließ und ihr bei ihren ständigen Kontrollblicken in nahezu alle Schaufenster ein radikal veränderter Typ entgegen blickte, war sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine so tolle Idee gewesen war, sich die langen Haare abschneiden zu lassen.
Komisch, nach vollbrachter Tat war Martin derjenige gewesen, der vor lauter Begeisterung über sein Werk und das Ergebnis spitze Begeisterungsrufe ausgestoßen hatte. Sie hatten gemeinsam seine Ordner mit den Fotos von unzähligen Frisuren durchgeschaut und sich schließlich auf einen ziemlich flippigen Pilzkopf mit langem Deckhaar und ausrasiertem Nacken entschieden.
Dagegen war sich Tatjana jetzt nicht mehr sicher, ob ihr Wunsch nach einer völlig neuen Frisur sonderlich klug oder nicht doch eher einer kurzzeitigen geistigen Umnachtung entsprungen war, die sie, wenn möglich, lieber wieder rückgängig machen sollte.
Verunsichert riskierte sie einen erneuten Blick in den Behelfsspiegel. Obwohl sie das Bild, das sich ihr dort zeigte, inzwischen mindestens zwanzigmal gesehen hatte, erschrak sie stets aufs Neue. Statt des gewohnten romantisch angehauchten und immer ein wenig brav wirkenden Mädchens mit dem offen fließenden blonden Engelshaar bzw. dem praktischen Zopf blickte ihr jetzt ein freches, in gewisser Weise keck und spitzbübisch aussehendes Girlie entgegen.
War es das, was sie gewollt hatte?
Nun gut, sie würde sich wohl erst daran gewöhnen müssen, tröstete sich Tatjana. Und falls ich das nicht gelingen sollte, könnte sie die Haare ja auch wieder wachsen lassen. Bei dem langen Deckhaar würde es gar nicht mal so lange dauern.
Mit diesen Gedanken wandte sich Tatjana von ihrem Spiegelbild ab und steuerte die Bäckerei an, vor deren Tür sie vorhin den peinlichen Zusammenstoß mit dem netten Jungen gehabt hatte. Was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein herrlich pappiger Bienenstich. Denn eine leckere Nascherei hatte sie bisher noch immer aufheitern und zufrieden stimmen können. Ja, ein süßer Trost wäre jetzt genau das Richtige!
"Verdammt!", fluchte Kai, als er bei einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr festgestellt hatte, dass es schon deutlich später war als von ihm angenommen.
Da hatte er bei seinem ausgiebigen Bummel durch die Sportgeschäfte doch tatsächlich vergessen, auf die Zeit zu achten! Und jetzt bleiben ihm gerade mal fünf Minuten Zeit, um zum Busbahnhof zu gelangen, wo sein Bus sicher nicht auf ihn als Nachzügler warten würde. Dafür er eine Stunde auf den nächsten.
Also, rennen, was das Zeug hielt! Wenigstens war er gut in Form und würde die Strecke ohne Seitenstechen schaffen. Kai flog in beängstigendem Tempo über den Asphalt, geschickt den unvermittelt vor ihm auftauchenden Hindernissen wie Kinderwägen oder achtlos geparkten Fahrrädern ausweichend.
Wumm!
Er hatte das Mädchen, das ihm da eben aus dem Laden direkt vor die flitzenden Füße getappt war, zu spät gesehen, als dass er noch hätte bremsen können. Die Wucht des Zusammenpralls warf sie um und sie landete ziemlich unsanft auf ihrem Hinterquartier. Dabei verlor sie einen hellen Gegenstand, in dem ein anderer Passant, als er die beiden Unfallopfer überholte, prompt hinein tappte. Um kurz darauf ärgerlich zu schimpfen, weil ihm etwas Weiches an den Schuhen klebte, nämlich die kümmerlichen Reste eines ehemals verführerischen Gebäckstückes.
Als Tatjana das Missgeschick des betreffenden Mannes sah, wich ihre anfängliche Verärgerung einem belustigten Lachen. Im nächsten Moment streckte sich ihr bereits eine helfende Hand entgegen und zog sie wieder auf die Beine.
Tatjana klopfte notdürftig den Staub von ihrer Jacke und wandte sich dem Täter und Retter in einer Person zu. Warum glotzte der Kerl sie nur so blöde an? Hatte sie etwa einen Vanillecremeflecken im Gesicht abbekommen? Oder war es wieder mal so ein Fall von einem Boy, bei dem sich hinter einer hübschen und netten Fassade ein unterbelichteter Schwachkopf befand? Ach du liebe Güte, jetzt blieb ihm auch noch der Mund offen stehen! Megapeinlich! Am besten, sie machte sich möglichst schnell aus dem Staub!
"Entschuldigung!", stammelte Kai und starrte Tatjana neugierig und verwirrt an, sichtlich bemüht, es nicht wie Anstarren aussehen zu lassen.
"Halb so schlimm!", entgegnete Tatjana, die sich unter dem forschenden Blick des eigentlich recht sympathisch wirkenden Jungen ziemlich unwohl fühlte. Was hatte der Typ denn nur?
"Es hört sich zwar blöd an, aber ich glaube, ich habe dich irgendwo schon mal getroffen", versuchte Kai sein seltsames Verhalten zu erklären. Tatjana rollte gedanklich mit den Augen. Oh nein, nun diese abgedroschene Anmachnummer, das war mehr, als sie verkraften konnte! "Vielleicht habe ich dich aber auch verwechselt. Das Mädchen, das ich meine, hatte lange Haare."
Bei seinen letzten Worten horchte Tatjana auf und schauten nun ihrerseits ihren verlegenen Gegenüber etwas genauer an. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen. Mensch, das war ja der Typ, den sie auf dem Weg zu Martins Salon umgerannt hatte!
"Nein, du hast Recht", erwiderte Tatjana und lächelte. "Ich bin schon das Mädchen, das du meinst. Wegen mir hast du deine Quarktasche verloren.", ergänzte sie, um seine Erinnerung aufzufrischen.
"Aber du hattest doch einen blonden Zopf", wunderte sich Kai und verriet damit der erfreuten Tatjana, dass er ihr anscheinend ausgiebig nach geschaut hatte.
"Den ich mir wenige Minuten später habe abschneiden lassen", klärte ihn Tatjana auf und fuhr sich mit den Fingern durch den ungewohnt kurzen Schopf, so, als wollte sie ihre Worte unterstreichen.
"Sieht viel besser aus!", lobte Kai, der mit aller Gewalt das Gespräch mit dem netten Mädchen fortsetzen wollte. Selbst um den Preis von schmeichlerischen Komplimenten. Obwohl er seinen Satz eben durchaus ernst gemeint hatte.
"Das habe ich jetzt zur Bestätigung gebraucht!", gab Tatjana offen zu und überlegte, wie sie den unvermeidlichen Abschied weiter hinaus zögern könnte.
"Ich glaube, jetzt schulde ich d i r eine Quarktasche!", meinte Kai und deutete kurz auf den Bienenstichmatsch auf dem Gehsteig.
"Nee, ein Bienenstich!", lachte Tatjana, ehe sie vorsichtig fragte: "Und vielleicht eine heiße Schokolade im zugehörigen Café?" Ihr Herz klopfte ihr vor lauter Aufregung bis zum Hals. Wie würde er auf ihren eindeutigen Wunsch regieren? War sie zu aufdringlich gewesen?
"Prima Idee!", freute sich Kai und grinste sie an. "Hätte glatt von mir stammen können!"
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright by MacMillan Inc., verwendet in Lizenz
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