Eiswalzer

"Willst du es nicht wenigstens mal probieren?"

Heike gönnte sich gerade eine Eispause, die sie dazu nutzen wollte, ihre Freundin Daniela, die jenseits der Bande stand, zu ersten Gehversuchen mit Schlittschuhen zu überreden. Doch Daniela ließ sich nicht erweichen und schüttelte energisch den Kopf.

Es war Sonntagnachmittag, den ihre Clique zu Danielas Leidwesen diesmal in der Eishalle verbrachte. Weil dort nämlich jeden Sonntag sogenanntes "Discolaufen" zu fetziger Musik angesagt war.

Daniela war zu Beginn des Schuljahres neu in die 10 a gekommen und hatte aufgrund ihres netten und unkomplizierten Wesens sehr schnell Anschluss gefunden. An die sogenannte Volleyball-Clique, die ihren Name der Tatsache verdankte, dass beinahe die komplette Jungen-Mannschaft der Realschule ihr angehörte. Sowie einige Mädchen aus der Klasse, die allesamt eher der Rubrik kumpelhafter Jeanstyp und weniger der Kategorie aufgebrezelter Zicke zuzuordnen waren. Daniela fühlte sich in dieser Clique sehr wohl, in die sie Heike das erste Mal mitgeschleppt hatte. Heike war ihr von der Klassenleiterin als Banknachbarin zugewiesen worden und sie hatten sich auf Anhieb super verstanden, da sie auf der gleichen Wellenlänge lagen.

Bis heute hatte sich Daniela auch ausnahmslos an allen gemeinsamen Unternehmungen der Clique beteiligt, doch beim Eislaufen passte sie. Obwohl sie sonst ein überaus sportliches Mädchen war, war sie noch nie in ihrem Leben auf Schlittschuhen gestanden - denn es hatte in ihrer alten Heimatstadt keine entsprechende Möglichkeit gegeben - und wollte sich nicht zum Gespött der anderen machen.

Erst recht nicht heute, wo Volker zur "allgemeinen Begeisterung" mit Ramona, dem hübschesten, aber auch ziemlich eingebildeten Mädchen aus der Parallelklasse aufgekreuzt war.

Hätte sich Daniela vielleicht im letzten Moment doch noch dazu durchringen können, sich ein Paar Schlittschuhe auszuleihen und zu testen, so war das Thema für sie spätestens mit dem Auftauchen Ramonas erledigt. Sie hatte einen entzündeten Zehennagel als Entschuldigung vorgeschoben und die anderen hatte ihre Ausrede ohne Zweifel geschluckt. Nur Heike kannte die Wahrheit, aber auf Heike war Verlass, die würde dicht halten.

"Schau nur, wie affig sich diese olle Tussi nur aufführt!", regte sich Heike auf und rollte genervt mit den Augen, als ein lautes Quieken und Kreischen aus Richtung Eisfläche zu hören war und sie sich daraufhin nach der Ursache des grässlichen Lärms umwandten.

Ramona, eine nicht gerade begnadete Kufenfee, und das nach mittlerweile mindestens fünf Wintern Praxis, wie Heike spöttisch bemerkte, nutzte ihr Unvermögen gnadenlos zum Flirt mit den Jungen, die - von Dirk und Philipp mal abgesehen - ausnahmslos um die bewunderte Schönheit herumschwänzelten. Ramona schien sich immer kurz vor einem Sturz zu befinden, so dass sie spitze Entsetzensschreie ausstieß und wild mit den Armen fuchtelte, um sich letztendlich dankbar von einem hilfsbereiten Retter auffangen zu lassen und sich enger als nötig an ihn zu schmiegen. Da sie dabei ihre Gunst überaus großzügig und auch gleichmäßig auf alle verteilte, hatte sich Volkers Miene, der als ihr Begleiter bevorzugt Ansprüche anmelden wollte, mit der Zeit immer mehr verfinstert.

"Was für eine billige Masche!", ereiferte sich Heike über Ramonas Verhalten. "Und die Jungens sind auch noch so blöd und fallen drauf rein! Allen voran Volker, der kann einem ja schon richtig leid tun! Der Arme scheint sich tatsächlich in diese Zimtzicke verknallt zu haben. Liebe macht eben doch blind!" Sie wandte sich wieder ihrer Freundin zu, als würde ihr der weitere Anblick der theatralischen Diva auf dem Eis regelrecht Schmerzen zufügen.

"Wenigstens zeigen ihr Dirk und Philipp die kalte Schulter", meinte Daniela. "Sonst würde sie ja völlig überschnappen!"

"Tja, die beiden scheinen eben etwas mehr in der Birne zu haben als der Rest!", lachte Heike.

"Ja, ich finde sie auch am nettesten von allen Jungens in der Clique.", stimmte Daniela ihr zu, wobei sie hoffte ihre Stimme würde sich normal anhören. Und nicht verliebt. Das war sie nämlich seit einiger Zeit. In Philipp. Wie gerne wäre sie mit ihm Hand in Hand über das Eis geschwebt, dieses romantische Bild würde wohl ein Traum von ihr bleiben müssen! Mit einer blutigen Anfängerin, wie sie es war, würde sich kein Junge gerne vor seinen Freunden präsentieren wollen. Ein wenig konnte Daniela das sogar verstehen.

Als hätten sie gemerkt, dass die beiden Mädchen am Rand über sie sprachen, kamen Dirk und Philipp in Atem beraubenden Tempo angeflitzt und bremsten gekonnt vor Heike und Daniela ab.

"Was ist los, keine Kondition mehr?", lästerte Dirk und grinste Heike herausfordernd an. Sein Spruch erzielte die gewünschte Wirkung. "Pah, wer zuerst an der oberen Bande ist!", rief Heike und schoss im nächsten Moment über das Eis, Dirk knapp hinter ihr her.

"Schade, dass du verletzt bist und nicht mitlaufen kannst!", bedauerte Philipp, der bei Daniela stehen geblieben war.

"Ja, wirklich ärgerlich!", entgegnete Daniela und schämte sich insgeheim, dass sie ihren heimlichen Schwarm weiterhin anschwindelte.

"Nun, der Winter ist ja noch lang, da ergibt sich bestimmt wieder eine Gelegenheit!", tröstete Philipp ahnungslos die vermeintlich unglücklich Verletzte.

Daniela erschrak, denn sie hatte nur bis zum heutigen Termin und nicht darüber hinaus gedacht. Klar, bei so viel Spaß würde sich die Clique sicher noch etliche Male im Winter zum Eis laufen treffen. Mist! Gut, dann wäre sie das nächste Mal eben auf dem Geburtstag ihrer Tante in Lübeck. Die nicht existierte.

"Wenn du willst, könnten wir uns ja gleich für nächsten Sonntag verabreden. Auf diesen komischen Alien-Film habe ich nämlich ehrlich gesagt keine besonders große Lust." Fürs kommende Wochenende hatte die Clique einen Kinobesuch geplant. Der neueste Sci-Fi-Streifen. Hochgelobt wegen seiner tollen Effekte. Da sich Daniela ebenfalls nicht aus derartigen Filmen machte, willigte sie nur allzu gerne in Philipps Vorschlag ein.

"Warum nicht?", antwortete sie so lässig und unbefangen wie möglich. "Wieder um 15 Uhr?"

"Okay, um die gleiche Zeit wie heute vor der Halle. Und den anderen erzählen wir was von familiären Verpflichtungen oder so." Philipp blickte sie verschwörerisch an und legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. "Psst, großes Geheimnis!"

Daniela nickte kurz, denn vor lauter Aufregung war sie zu keiner anderen Reaktion fähig. Wow, ein Date mit ihrem Traumboy! Gleich morgen würde sie sich ein Paar Schlittschuhe besorgen und jeden Tag üben. Auf dem kleinen Weiher am Waldrand ihrer Siedlung.

"Darf ich dir helfen?"

Vor lauter Schreck verlor Daniela das Gleichgewicht und landete auf dem Hosenboden. Ziemlich unsanft, denn das Eis war steinhart.

"Philipp! Wo kommst denn du her?", stieß Daniela entgeistert aus und blickte ihn an wie ein Gespenst.

"Von zu Hause!", grinste er und schnallte sich seine Schlittschuhe an

"Aber, woher weißt du...?" - "Dass ich dich hier finden kann?", vollendete Philipp ihre Frage. "Heike hat mir den Tipp gegeben."

"Diese Verräterin!", empörte sich Daniela. "Sie hatte mir doch versprochen, niemandem etwas zu verraten!"

"Ist es denn nun sooo schlimm, dass ich hier bin?", fragte Philipp, glitt gekonnt auf Daniela zu und half ihr beim Aufstehen. Seine plötzliche Nähe und der tiefe Blick in Philipps wunderschöne grüne Augen ließen ihre Knie mit einem Schlag butterweich werden.

"Nein, im Gegenteil!", erwiderte sie und schaute für einen Moment schüchtern auf den Boden, bevor sie entschlossen den Kopf hob und Philipp direkt ins Gesicht sah. "Ich freue mich sehr darüber. So wie auf den Sonntag."

"Das kannst du viel öfter haben, wenn du möchtest!", lächelte Philipp sie an, nahm ihre Hände und zog Daniela vorsichtig hinter sich her, bis ihre Schritte langsam sicherer wurden. Dann wechselte er an ihre Seite und begnügte sich mit einer Hand. Die er am liebsten niemals mehr losgelassen hätte.

Und irgendwann würde er Daniela auch erzählen, wie er zusammen mit Heike und Dirk diesen raffinierten Plan ausgeheckt und sie alles so eingefädelt hatten, dass er jetzt mit ihr unter Ausschluss der neugierigen Öffentlichkeit zu zweit über das Eis schweben konnte. Und damit sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen ist...


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