Geheimnisvoll verschleiert
"Warum müssen solche Missgeschicke immer mir passieren!", jammerte Judith verbittert und schmiss enttäusch ihr hautenges silberfarbenes Minikleid in die Ecke. "Das kann ich jetzt ja wohl vergessen!"
Sie hatte ursprünglich ihre langen Haare mit Hilfe von Papilloten in eine üppige Lockenpracht verwandeln und sich kunstvoll mit viel weißer Farbe und Glitter schminken wollen, um dann als Atem beraubende Schönheit möglichst vielen Jungen auf dem Faschingsball ihrer Schule den Kopf zu verdrehen. Genau genommen hätte ihr bereits Axel aus der Parallelklasse vollkommen gereicht. In den war Judith nämlich schon länger verknallt. Heimlich und unglücklich. Nicht einmal Anne hatte sie ihr süßes Geheimnis anvertraut. Die hätte nur wieder Schicksal spielen wollen und sich als Kupplerin betätigt. Und darauf konnte Judith seit dem peinlichen Flop vom letzten Mal mit Thorsten gut verzichten. Nein, danke! Eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als Anne zu erzählen, dass sie den Axel mit seinem blonden Stoppelhaarschnitt und den sanften grünen Augen unheimlich süß fand und nachts sogar schon von ihm träumte. Und das waren ziemlich aufregende Träume! Bestimmt hätte ihr knalliger Spacelook seine Aufmerksamkeit erregt. Und der Rest, da war sich Judith sicher, hätte sich schon irgendwie von selbst ergeben. Der Anfang war ihrer Meinung nach das größte Hindernis.
"Verdammt, verdammt, verdammt!", machte sie ihrem Frust und ihrer Verärgerung Luft und fegte die unschuldigen, bereits vorbereiteten Papilloten mit einer ungestümen Handbewegung von ihrem Schreibtisch. "Wir haben nur noch eine drei Viertel Stunde! Sag mir bitte, welche Verkleidung in der kurzen Zeit noch hinzukriegen ist!", wandte sich Judith verzweifelt an Anne, die bereits fertig kostümiert war und das perfekte Marilyn-Double abgab. "Wohlgemerkt, ein Kostüm, das toll aussieht!" Judith spuckte das Wörtchen geradezu aus.
Anne blickte ihre bedauernswerte Freundin mitleidig an. Das war wirklich Pech. Ausgerechnet heute, wo sie sich drei Stunden vor Beginn der Veranstaltung bei Judith zu Hause verabredet hatten, um sich in aller Ruhe stylen zu können, ausgerechnet heute musste der Zug, mit dem Judith nach ihrer wöchentlichen Klavierstunde stets aus der Stadt zurück fuhr, wegen eines technischen Defekts eineinhalb Stunden Verspätung haben. Da Anne sich die Wartezeit damit vertrieben hatte, sich anzuziehen, schminken und zu frisieren, war sie nun fertig, während Judith immer noch in Jeans und Pulli vor ihr hockte und wie ein Häufchen Elend wirkte.
"Jetzt hol´ mal sämtliche Faschingskostüme, die es im Hause Bergmann gibt, das wäre doch gelacht, wenn da keine passende Alternative für dich dabei wäre!", forderte Anne ihre total frustrierte Freundin auf. "Und wenn wir zehn Minuten zu spät kommen, ist das auch kein großes Unglück!"
"Wie wär´s denn damit?", schlug Anne zehn Minuten später vor, nachdem sie sich durch den von Judith angeschleppten Kostümberg zu ihren Füßen durchgekämpft hatte und hielt ihr zwei orangefarbene, glänzende Satinteile unter die Nase.
"Als Haremsdame? Na ja, ich weiß nicht...", zögerte Judith.
"Das ist doch ideal!", begeisterte sich Anne für das orientalische Kostüm. "Du würdest nicht nur verführerisch aussehen, sondern du könntest auch gleich deine Haare unter dem Schleier verstecken, so dass wir dich nicht erst umständlich frisieren müssten! Wo ist nur der Schleier?" Anne verschwand eifrig wühlend in den Stoffen, bis sie triumphierend mit dem hauchzarten nachtblauen Schleier in der Hand wieder auftauchte.
"Vielleicht ist deine Idee gar nicht so schlecht!", stimmte Judith nach kurzer Überlegung zu. "Jedenfalls würde sich das Schminken in Grenzen halten." Langsam konnte sie sich mit dem Gedanken, statt als coole SciFi-Frau aufzutreten in die Rolle der verführerischen Haremsdame zu schlüpfen, durchaus anfreunden.
"Und in deinen Bauchnabel kleben wir dir einen Strassklunker, das wird total klasse aussehen!" Anne war bereits Feuer und Flamme für ihre Idee und verwandelte Judith in schlappen 35 Minuten in eine umwerfende und überaus geheimnisvolle Schönheit aus Tausendundeiner Nacht.
Als Judith vor dem Gehen einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild warf, war sie mit dem Ergebnis hochzufrieden und trauerte dem verpassten Spacelook keine Sekunde mehr nach.
"Sorry, aber ich brauch mal ´ne Pause!", verabschiedete sich Anne von Judith auf der überfüllten Tanzfläche und steuerte gierig den Getränkeverkauf an.
Da gerade die ersten Takte ihres absoluten Lieblingssongs ertönten, verzichtete Judith darauf, ihre Freundin zu begleiten, und gab sich statt dessen lieber weiterhin dem Tanzvergnügen hin.
Bei den vertrauten und von ihr so sehr geliebten Klängen vergass sie ihre Umgebung und tanzte so ausgelassen, wie sie es zu Hause auch stets bei diesem Lied tat, wenn ihr niemand dabei zuschaute. Mit jedem Takt versank Judith tiefer in die Musik und ließ ihren Körper die Kontrolle über ihre Bewegungen übernehmen. Ihr Tanz war der Sieg des puren Gefühls über den nüchternen und oft nur einengenden Verstand. Ihre Hüften wogten im Rhythmus der Musik, ermuntert durch das passende Kostüm wesentlich intensiver als sonst. Dass sie mit ihrem selbstvergessenen Tanz die Aufmerksamkeit vieler Zuschauer und Mittänzer auf sich zog, bemerkte Judith nicht. Sie gab sich völlig dem Gefühl des Losgelöstseins hin und kehrte erst mit Ende des Songs in die Wirklichkeit zurück.
Zu ihrer Überraschung stand Judith plötzlich direkt ihrem Schwarm gegenüber. Axel musste sich während ihres entrückten Tanzes genähert haben, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt vergeblich Ausschau nach ihm gehalten, ohne ihn jedoch in dem wilden Getümmel und bunten Treiben ausfindig machen zu können. Und würde sie nicht in ihrer Verliebtheit jedes noch so winzige Detail seines Äußeren aufgenommen haben, dann hätte sie Axel auch nicht erkannt. Lediglich das kleine Muttermal auf seinem rechten Handrücken verriet seine Identität. Der Rest von war nämlich geschickt unter einer Zorromaske und einem riesigen Hut versteckt.
Judith war froh, als die Musik wieder einsetzte, denn die unvermittelte Nähe ihrer Flamme hatte ihr ziemlich weiche Knie verschafft und ihrer Selbstbeherrschung einiges abverlangt, um ihre innere Erregung nicht nach außen hin zu verraten. Doch ihre Erleichterung war nur von recht kurzer Dauer, denn nun hatte der DJ eine langsame Ballade aufgelegt. Ein willkommene Schmusegelegenheit für Pärchen, aber der blanke Horror für Solisten. Nichts wie weg hier! Judith wollte gerade fluchtartig die Tanzfläche verlassen, als sie eine Hand an ihrer Schulter spürte. Erstaunt drehte sie sich um und blickte direkt in Axels Gesicht, oder besser gesagt in Zorros Maske.
"Darf ich bitten?", fragte er formvollendet und machte dabei vor Judith einen schwungvollen Diener, was mit seinem weiten Umhang einen dramatischen Effekt ergab.
"Gerne, Axel", hauchte sie mit lächelnd und freute sich diebisch über Axels überraschte Reaktion.
"Wie hast du mich nur erkannt?", fragte er verwundert. "Niemand weiß, wie ich mich verkleidet hab. Nicht einmal Fabian habe ich mein Kostüm verraten!" Fabian war Axels bester Freund und sie hingen in ihrer Freizeit beinahe ständig zusammen, wie Judith nur allzu gut wusste.
"Verrate ich nicht!", lachte Judith, während sie sich von Alex behutsam führen und drehen ließ. "Nenn mich einfach Salomé!"
"Jetzt tanze ich mit dem verführerischsten Mädchen des gesamten Balles, verliere mich hoffnungslos in ihre funkelnden, dunklen Augen und soll nicht wissen dürfen, mit wem ich das Vergnügen habe?", jammerte Axel theatralisch, was Judith nur noch mehr lachen ließ.
Obwohl sie noch die nächste Stunde ununterbrochen miteinander tanzten, blieb Axel über seine Partnerin weiterhin im Unklaren. Am nächsten Tag ärgerte er sich über seine Unbeholfenheit und schalt sich einen Idioten, der seine Traumfrau unerkannt hatte verschwinden lassen.
Am nächsten Montag, dem ersten Schultag nach dem Faschingsball, stand Axel hinter Judith in der Reihe vor dem Verkaufsstand beim Hausmeister. Als Judith die erforderlichen Münzen für ihre beiden Käsebrötchen auf die Theke zählte, fiel sein Blick auf ihre linke Hand, in der sie ihren Geldbeutel hielt. Dieser Ring! Wo hatte er diesen auffälligen Ring schon mal gesehen? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen vor die Augen. Rasch orderte er seinen Kaba und stürzte der davonschlendernden Judith hinterher. Er erreichte sie in dem Moment, als sie Anne ihr Käsebrötchen gab.
Die staunte nicht schlecht, als mit einem Male ein abgehetzt wirkender Axel sich vor ihr und Judith aufbaute, ihre Freundin mit einem seltsamen Blick anstarrte und sagte: "Du bist Salomé!"
Judith fragte leise. "Wie hast du das herausgefunden?"
"Der Ring", deutete Axel auf ihre Hand, "du hattest ihn auch am Freitag getragen!"
"War wohl eine Spur zu leichtsinnig von mir", meinte Judith und schaute verlegen auf den Boden, weil sie befürchtete, bei einem Blick in Axels Gesicht würde sie rot anlaufen.
"Nein, das war mein Glück", widersprach Axel, "sonst hätte ich dich niemals gefunden! Und es gab nichts, was ich nach dem Ball mehr wollte!"
Obwohl sie nur Bahnhof verstand und keinen blassen Schimmer hatte, was sich da gerade zwischen den beiden abspielte, verdrückte sich Anne möglichst unauffällig und ließ Judith mit Axel allein. Sie spürte nämlich, dass da etwas Besonderes stattfand und was das genau war, würde ihr Judith später sicher gerne erzählen...
© 2000 Anja Gerstberger, Bild: Copyright by MacMillan Inc., verwendet in Lizenz
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