Kerstin allein zuhaus

"Och, Paps, ich bin doch kein kleines Kind mehr!", stöhnte Kerstin und rollte genervt mit den Augen. "Ihr behandelt mich ja wie einen hilflosen Säugling, also wirklich! Habt ihr vielleicht vergessen, dass ich schon 15 bin?"

"Wir wollen doch nur sicher sein, dass du allein zurecht kommst und keine Angst hast", erwiderte ihr Vater und lächelte seine Tochter wegen seiner möglicherweise übertriebenen Besorgtheit entschuldigend an. Während Mutter zur elterlichen Rechtfertigung hinzu fügte: "Wo es doch in letzter Zeit so viele Einbrüche in unserem Viertel gegeben hat!"

Die Bergmanns hatten sich in Schale geworfen, weil sie in die nahe gelegene Stadt zum Operbesuch fahren wollten. Da Kerstins älterer Bruder Michael den Abend bei seiner Freundin verbrachte, würde ihre Tochter heute alleine im Hause sein. Was sie natürlich schon öfters war und was auch nichts Beasonderes gewesen wäre, wenn, ja, wenn es da in ihrer Siedlung nicht diese Einbruchsserie der vergangenen Wochen gegeben hätte.

"Wenn das Telefon geht, musst du unbedingt rangehen, damit wollen sie nämlich testen, ob jemand zu hause ist.", schärfte ihr Vater ein.

"Und dass du bloß niemandem die Tür aufmachst, Michael und wir haben Schlüssel und sonst hat hier keiner was zu suchen, klar?" Mutter wiederholte diese Anweisung nun bereits zum dritten Mal, wie Kerstin belustigt feststellte.

"Ja, ja, ja, und ich mache in mindestens zwei Räumen das Licht an, damit jeder denkt, es befinden sich mehrere Leute in der Wohnung!", sagte Kerstin brav die nächste Verhaltensregel auf, während sie ihre Eltern energisch Richtung Tür schob. "Und jetzt endlich raus mit euch!" Ein lezter Abschiedskuss und weg waren sie. Endlich! Kerstin schob den Sicherheitsriegel vor und freute sich auf einen gemütlichen Abend.

Nur fünf Minuten später läutete ads Telefon. Pflichbewusst nahm Kerstin den Hörer ab: "Kerstin Bergmann."

"Vuole sua pizzetta con prosciutto o tonno?", erschallte es da aus dem Apparat.

"Wie bitte?", fragte Kerstin verwirrt, die kein Italienisch verstand. Und die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung wohl kein Deutsch, denn der setzte seinen italienischen Wortschwall ungerührt fort. Da sie mit den fremdsprachigen Sätzen nichts anfangen konnte und ihr Gesprächspartner nicht auf ihre zweimaligen Entschuldigungen reagierte, legt sie schließlich einfach auf.

Nachdenklich blickte sie dann das Telefon an. Wer kann das eben nur gewesen sein? Ihre Familie hatte in ihrem Bekanntenkreis keine Italiener, was sollte dieser seltsame Anruf also? Plötzlich durchfuhr es Kerstin siedenheiß. Außer...? Nein, das kann nicht sein, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, der Gedanke war doch zu abwegig. Oder doch nicht? War das eben jemand von der Mafia gewesen?

Keine Viertelstunde später klingelte das Telfon erneut. Kerstin erschrak und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Was sollte sie nur tun, wenn es wieder der Anrufer von vorhin war? Sollte sie lieber nicht hingehen, bevor sie vielleicht etwas Falsches sagte und ihn verärgerte oder reizte? Nein, Kerstin, das wäre feige, stell dich deinem Feind!

Entschlossen nahm sie den Hörer von der Gabel und nannte ihren Namen. Stille. "Hallo, wer ist denn da?", wollte sie von ihrem stummen Gegenüber wissen. Dass jemand dran war, konnte Kerstin an dem leisen Atem hören. Klack! Aufgelegt. Erneutes Klingeln, gleiches Spiel. Drangehen, auflegen. Das Spielchen wiederholte sich noch zweimal, jeweils in zehnminütigen Zeitabständen. Schließlich hatte Kerstin endgültig die Nase voll und zog den Stecker aus der Telefonbuchse. Halt, das ist schlecht, dann würde man ja denken, es wäre niemand da. Also wieder einstecken und den Hörer neben den Apparat legen, dann käme wenigstens das Besetztzeichen. Erleichtert und etwas erschöpft legte sich Kerstin nun auf die Couch und fing den empfohlenen Spielfilm an.

Klingelingeling!!! Erschrocken fuhr Kerstin hoch. Diesmal die Wohnungstür. Wer konnte das nur sein? Rasch ging sie durch sämtliche Räume und schaltete überall das Licht ein. Klingelingeling! Wie kam es, dass sich das vertraute Geräusch plötzlich so bedrohlich anhörte? Klingelingeling! Zögerlich ging Kerstin zur Tür und fragte mit verhaltener Stimme: "Wer ist da?"

"Ich bringe die bestellte Pizza!", ertönte es von draußen.

"Ich habe keine Pizza bestellt!", entgegnete Kerstin, während der Kloß in ihrem Hals immer dicker wurde.

"Ist hier nicht Bergmann, Adenauerring 25?"

"Doch, aber wie gesagt, hier hat niemand eine Pizza bestellt!"

"Aber ja doch", beharrte die unbekannte Jungmännerstimme, "Sie ist sogar schon bezahlt worden, gestern!" Kerstin blieb trotzdem stur und rührte sich nicht. "Wenn Sie nicht aufmachen wollen, lege ich sie eben vor die Tür! Wiedersehen!"

Kerstin wartete zehn Minuten, bevor sie sich traute, die Tür einen Spalt weit zu öffnen. Vorsichtig spähte sie in alle Richtungen, ob jemand aus seinem versteck stürzen würde. Fehlanzeige. Leise entriegelte sie die Sicherheitskette, riss blitzschnell den Karton an sich und knallte die Tür sofort wieder zu. Die Sicherung kontrollierte sie gleich dreimal, bevor sie mit der Pizza ins Wohnzimmer ging.

Hm, das duftete aber lecker!

Sie wollte gerade in das erste Stück beißen, als ihr ein schecklicher Verdacht kam und darum hielt sie inne und legte das verführerische Pizzastück wieder unberührt zurück. Wenn sie überhaupt keine Pizza bestellt hatte, sondern jemand anders, dann hatte der sich dabei bestimmt was gedacht. Klar, die Pizza war präpariert! Vergiftet! Angewidert fegte Kerstin den Pizzakarton samt Inhalt vom Tisch. Das war ein heimtückischer Anschlag und sie wäre auch noch fast darauf hereingefallen!

Erneutes Klingeln an der Tür riss sie aus ihrem Schockzustand. Kerstin blickte panisch Richtung Flur. Das waren sie wieder! Bestimmt dachten sie, dass das Gift schon seine Wirkung tat! Aber warum klingelten dann die Verbrecher und brachen nicht gleich die Tür auf? Im nächsten Moment kehrte wieder Stille ein. Trügerische Stille. Kerstin wünschte sich nun nichts sehnlicher, als dass dieser alptraumhafte Abend endlich vorbei wäre.

Pling, pling!

Das Geräusch in ihrem Rücken ließ Kerstin erschaudern. Das Fenster, jetzt waren sie am Fenster! Waren auch wirklich alle geschlossen? Hastig kontrollierte sie sämtliche Fenster, Gott sei dank, alle geschlossen!

Pling, pling!

Völlig eingeschüchtert kauerte sich Kerstin nun auf die Couch und wagte nicht einen Blick zum fenster hinaus zu werfen, aus dessen Richtung das Geräusch kam.

Erneute Stille. Doch Kerstin konnte sich nicht so recht darüber freuen, weil sie sich fragte, welche böse Überraschung wohl als Nächstes auf sie warten würde.

Klingelingeling! Schon wieder das Telefon! Klingelingeling!

Kerstin zögerte zunächst etwas, ging dann aber doch ran. "Kerstin Bergmann", hauchte sie.

"Na, endlich!", schallte ihr da die verärgerte Stimme ihres Bruders entgegen. "Wird aber auch langsam Zeit! Kannst du mir vielleich verraten, warum du mir nicht aufmachst. Oder willst du etwa behaupten, du hättest nicht gehört, wie ich geklingelt und Steinchen ans Fenster geworfen habe. Ich habe meinen Schlüssel vergessen und komme nicht rein!"

Ein regelrechter Steinbruch fiel von Kerstins Herzen. "Ich hab´so laut Musik gehört, dass ich nichts mitgekriegt habe", versteckte sie ihr panisches Verhalten hinter einer Notlüge.

Und am nächsten Tag sollte Kerstin auch erfahren, dass ihre Eltern sie zum Trost für das Alleinsein mit einer tags zuvor bestellten und bezahlten Pizza überraschen wollten. Wie hätten sie wissen sollen, dass ausgerechnet an diesem Tag ein Ersatzkoch im Ristorante aushelfen würde, der nur Italienisch sprach?

Auf das Geständnis des anonymen Anrufers musste sie allerdings noch vier Tage warten. Erst dann fand Fabian, ein Kumpel ihres Bruders, der wusste, dass Kerstin an besagtem Abend alleine zu Hause sein würde, den Mut, ihr zu gestehen, dass er vor Aufregung, die Stimme seiner heimlichen Flamme zu hören, immer wieder aufgelegt hatte. Deshalb wollte er sie jetzt auch lieber persönlich fragen, ob sie nicht vielleicht Lust hätte, zusammen mit ihm die neu eröffnete Eisdiele zu testen...?

© 2000 Anja Gerstberger