Die Mietfreundin

"Ihr habt doch nicht wirklich geglaubt, dass ich mich auf einen derartigen Blödsinn einlassen würde, oder?", machte sich Lilly über das Anliegen ihres Bruders Kai, oder genauer gesagt, dessen besten Kumpels Jochen, lustig.

Die beiden Burschen waren vor knapp zehn Minuten verdächtig freundlich in ihr Zimmer gekommen, um sie um einen "kleinen Gefallen" zu bitten. Der darin bestand, dass Lilly am kommenden Wochenende auf der Familienfeier anlässlich des 80. Geburtstag von Jochens Oma seine Freundin mimem sollte.

Mit der Jochen seinem ungeliebten Cousin Henning das Lästermaul stopfen wollte. Der hatte sich nämlich bei der letzten derartigen Veranstaltung auf seine gewohnt eingebildete Art über seinen langweiligen Taugenichtsverwandten lustig gemacht. Dass Jochen mit seinem Aussehen und seiner Unsportlichkeit nie eine Freundin abbekommen würde usw. Lackaffe Henning hatte so lange die fiesesten Sprüche abgelassen, bis Jochen schließlich der Kragen geplatzt war und er behauptet hatte, dass er sehr wohl eine feste Freundin hätte und zwar eine ganz süße Maus, die nur deswegen nicht gekommen war, weil sie mit Fieber im Bett liegen würde.

Was der verblüffte Henning erst dann glauben wollte, als sich Jochen auf die Wette einließ, die schöne Unbekannte an Omas Achtzigstem mitzubringen, andernfalls müsste er ihm ein Jahresabo von Hennings Lieblingszeitschrift löhnen. Jochen hatte diesen unseligen Deal bis zu dieser Woche verdrängt, doch zwei Tage vor dem bedeutenden Fest wurde es allerhöchste Eisenbahn und es musste mit allen Mitteln endlich eine Freundin her. Da Jochen immer noch solo war, musste er sich auf andere Weise behelfen. Zusammen mit seinem besten Freund Kai hatten sie sich den gesamten Nachmittag das Hirn zermartert, wie Jochen aus seiner selbst verschuldeten Situation wieder heraus kommen könnte. Schließlich war Kai die glorreiche Idee gekommen, dass seine ein Jahr jüngere Schwester Lilly Jochens Freundin "spielen" könnte. Eben für die paar wichtigen Stunden.

Aber Lilly hatte die beiden Bittsteller nur ungläubig angestarrt, bevor sie lauthals losgelacht hatte. "Ihr seid echt zu komisch!", gluckste sie am Ende ihres Lachanfalls. "Nennt mir bitte einen einzigen vernünftigen Grund, weshalb ich mich auf dieses verrückte Unternehmen einlassen sollte!" Herausfordernd blickte sie die beiden kleinlauten Halbstarken an. Von den selbstbewussten Neu-Volljährigen war nach Lillys eindeutiger Reaktion nicht mehr viel übrig geblieben.

"Der große Blaue, den Jochen dir für deine Dienste springen lassen würde", entgegenete Kai grinsend. "Dann hättest du endlich das Geld für dein neues Fahrrad zusammen!" Als Jochen daraufhin hörbar nach Luft schnappte, verhinderte ein gezielter Ellbogenstoß von Kai, dass unbedachte Worte seinen offenen Mund verließen.

"Ich würde wirklich einen Hunderter dafür kriegen?", vergewisserte sich Lilly.

"Das wäre Jochen die Sache wert, nicht wahr, Jochen?", behauptete Kai.

Jochen nickte ergeben. Jetzt, wo Lilly tatsächlich ans Mitmachen dachte, wollte er kein Risiko eingehen.

"Wann und wie lange?", wollte seine Mietfreundin nun wissen.

"Diesen Samstag von 15 bis Weiß-nicht-wieviel-Uhr".

"Maximal 20 Uhr.", bestimmte Lilly. "Du holst mich ab und bringst mich auch wieder nach Hause." Tiefes Luft holen. "Und mehr wie Händchen halten gibt´s nicht."

Punkt drei Uhr klingelte es. Jochen war auf die Minute pünktlich. Nicht schlecht dachte Lilly, die nach schlechten Erfahrungen bei ihrem Ex Zuverlässigkeit bei Jungen mittlerweile zu schätzen wusste. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Was sie sah, gefiel ihr, sollte es auch, denn immerhin hatte sie zwei geschlagene Stunden gebraucht, bis sie mit dem Stylen fertig war. Lilly hatte sich für ihr nachtblaues Samtkleid entschieden, das so wunderbar zu ihren blauen Augen und den mittelblonden Locken passte, die sie locker hochgesteckt hatte. Passend zu dem schlichten Schnitt ihres Kleides hatte Lilly auf protzigen Goldschmuck und ein extremes Make-up verzichtet. Ihre winzigen Perlenstecker und ein Hauch pastellfarbener Lippenstift reichten völlig.

Erneutes Klingeln riss Lilly aus ihren Gedanken. Energischer, anhaltend, fordernd. Diese ungeduldige Seite kenne ich ja noch gar nicht an Jochen, grinste Lilly, schnappte sich ihren Mantel und eilte zur Haustür, um sie so schwungvoll aufzureißen, dass Jochen vor Schreck beinahe die Treppenstufen davor hinunter gepurzelt wäre. Oder war es einfach Lillys umwerfender Anblick, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte? Er konnte es selbst nicht sagen.

"Unsere Geschichte kannst du mir ja während der Fahrt erzählen", schlug Lilly vor und nahm in Jochens schwarzem Corsa Platz.

"Welche Geschichte?", fragte er verständnislos.

"Na, wie wir uns kennen gelernt haben, wie lange wir schon zusammen sind und all den Kram", erwiderte Lilly mit ernstem Gesicht. "Wäre doch peinlich, wenn wir da abweichende Angaben machen würden, oder?"

"Daran habe ich überhaupt nicht gedacht", gestand Jochen zerknirscht.

"Okay, dann hörst du mir die nächsten Minuten einfach gut zu,", nahm Lilly die Sache in die Hand. "während ich uns eine passable Story bastle."

Ein Nicken war alles, was der hypernervöse Jochen zusammenbrachte.

"Meine Rettungsaktion kostet natürlich noch einen Zehner extra!", grinste Lilly. Wer weiß, was sonst noch so alles auf sie zukommen würde...

"Die beiden, die uns da entgegen laufen, sind meine Eltern", erklärte Jochen rasch, als er mit Lilly an der Hand das elterliche Haus ansteuerte.

"Was haben sie denn zu deiner Inszenierung gesagt?".

"Ich habe sie gar nicht eingeweiht", gab Jochen kleinlaut zu.

"Du hast was?!?", rief Lilly empört, konnte aber ihren Satz nicht beenden, weil Jochens Eltern bereits in Hörweite waren. Lilly biss die Zähne zusammen und rang sich ein freundliches Lächeln ab.

"Endlich lernen wir das geheimnisvolle Mädchen kennen, das unserem Jochen den Kopf so sehr verdreht hat!", freute sich seine Mutter und drückte Lilly an ihren üppigen Busen.

"Solch einen exzellenten Geschmack hätte ich meinem Sohnemann gar nicht zugetraut", meinte sein Vater und begrüßte Lilly mit einem herzlichen Händedruck. "Sei froh, dass ich nicht zwanzig Jahre jünger bin, sonst würde ich dir die hübsche Dame glatt ausspannen!"

"Untersteh dich!", konterte Jochen und legte den Arm um Lillys Schultern. "Die gehört mir!" In dieser herzlichen Atmosphäre entspannte Lilliy sichtlich und konnte nicht anders, als die Situation zu genießen.

"Hauptsache, sie bleibt in der Familie!", lachte Vater und versetzte seinem Sohn einen kameradschaftlichen Fausthieb an den Oberarm. "Und den ersten Tanz schenkt sie mir, nicht wahr, Lilly?", fragte er mit einem vergnügten Augenzwinkern. "Klar, damit Jochen sehen kann, was ihm entgeht!", scherzte Lilly.

"Haha, das ist gut!", meinte sein Vater belustigt. "Und genau das, was Jochen braucht. Ein temperamentvolles Mädchen, das ihm ein bisschen Dampf macht!"

"Henning wird vor Staunen die Kinnlade herunter fallen", prophezeite Jochens Mutter. "Und danach gün anlaufen vor Neid. Denn seine Flamme hat ihm vor drei Tagen den Laufpass gegeben. Das wird ein Spaß!"

"Geschieht dem arroganten Lümmel nur recht!", brummte Vater.

"Was habt ihr nur alle gegen Henning?", wunderte sich Lilly.

"Die Antwort auf deine Frage, bekommst du spätestens nach fünf Minuten in seiner holden Gegenwart.", erwiderte Jochen.

"Meine Schwester hat ihn etwas zu sehr verwöhnt", meinte Jochens Mutter.

"Das ist wohl leicht untertrieben", bemerkte Jochens Vater und dann an Lilly gewandt. "Henning ist von Beruf Sohn wohlhabender Eltern."

"Ach so." Lilly lächelte wissend. "Scheint eine lustige Feier zu werden!"

"Na, Jochen, alter Loser!", wurden sie wenige Augenblicke später von einem blonden, solariumgebräunten Schönling in ihrem Alter begrüßt. "Und das," - Henning betonte das Wörtchen möglichst herablassend - "das ist nun deine tolle Freundin?" Kunstvolle Pause, während der er Lilly mit abfälligem Blick musterte. "Na ja,", lächelte Henning boshaft, "man muss sich eben mit dem zufrieden geben, was man bekommt, nicht wahr, Junge? Bei Bedarf könnte ich dir was Besseres vermitteln, Kollege!" Dabei klopfte er Jochen kumpelhaft auf die Schulter und lachte aus vollem Halse, als ob er gerade den besten Witz der Welt gerissen hätte.

Lilly kochte innerlich vor Wut. Was bildete sich dieser Unsympath eigentlich ein? Gegen den sympathischen Jochen war er doch das reinste Brechmittel! Kein Wunder, dass seine Freundin ihn verlassen hatte! Kein normal intelligentes Mädchen könnte es länger als einen Tag an der Seite dieses Angebers aushalten! Da mochte Henning noch so toll aussehen, unter dem Lack war er eine Niete. Na warte, Freundchen, dachte sich Lilly, dir werde ich deine große Klappe noch austreiben!

"Versuch´s mal mit ´ner Schaufensterpuppe!", schlug Lilly vor und lächelte Henning zuckersüß an. "Von der Optik und dem Intelligenzquotienten her würdet ihr prima zusammenpassen! Außerdem kann sie dir nicht weglaufen!"

Henning klapppte den Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen.

"Genau", pflichtete Jochen bei und zog Lilly an sich. "Ich bevorzuge Frauen mit Gehalt!"

Daraufhin küsste ihn Lilly zu seiner Überraschung mitten auf den Mund, wobei ihr ihre spontane Aktion so gut gefiel und Jochens Erwiderung ihr dermaßen wohlige Schauer über den Rücken jagte, dass sie gar nicht mehr aufhören konnte und wollte...

© 2000 Anja Gerstberger