Der Nachhilfeschüler

"Mensch, Jo, stell dich doch nicht so furchtbar verklemmt an!", stöhnte Karen und verdrehte genervt die Augen. "Da ist doch heutzutage wirklich nichts mehr dabei! Nimm dir ein Beispiel an Yvonne, die hat den Sascha einfach gefragt und es hat wunderbar geklappt!"

Die beiden Freundinnen hatten es sich wie so oft in Karens Zimmer bequem gemacht und klönten, wobei Karen ihre Freundin dazu bewegen wollte, ihren Schwarm für den bevorstehenden Schulball einzuladen.

"Ich bin eben schüchtern!", rechtfertigte Johanna ihre Feigheit. "Und nicht so selbstbewusst wie Yvonne oder du!" Trotzig vermied sie es, ihre Freundin anzuschauen und heftete stattdessen ihren Blick starr auf einen unbedeutenden Punkt auf dem Teppich, als ob es dort etwas Megaspannendes zu bestaunen gäbe.

"Das weiß ich ja, und das ist ja auch nicht schlimm", lenkte Karen nun ein. "Aber du kannst dich nicht dein Leben lang hinter deiner Schüchternheit verstecken und dabei sämtliche tolle Chancen an dir vorbeiziehen lassen!" Sie knuffte Johanna versöhnlich in die Seite. "Vor allem die zweibeinigen männlichen Gelegenheiten, die supernett sind und Pascal heißen!" Karens unverwechselbares spitzbübisches Grinsen begann Wirkung zu zeigen.

"Und wenn er Nein sagt?", fragte Johanna ängstlich. "Nach so einer Blamage könnte ich mich ein halbes Jahr nicht mehr in die Schule trauen!"

"Dummerchen!", neckte Karen. "Aus gut unterrichteten Quellen weiß ich zufällig, dass Pascal dich ziemlich sympathisch findet!"

Johanna erkundigte sich erst gar nicht nach Karens Informationsquellen, weil sie die ohnehin nicht verraten würde. Dass Geheimnisse bei Karen so sicher wie in Fort Knox aufgehoben waren, war allgemein bekannt. Selbst ihre Busenfreundin Johanna bekam nur das aus ihr heraus, was sie erfahren durfte, aber auch keinen Pieps mehr. Kein Wunder, dass Karen stets so gut über Alles unterrichtet war. Dennoch wagte Johanna nicht, daran zu glauben, dass Pascal, ihr heimlicher Schwarm sie tatsächlich nett finden und sich für sie interessieren könnte. Wo er doch in ihren verliebten Augen der hübscheste und tollste Junge der gesamten Schule war. Auch wenn Karen das etwas anders sah, ihrer Meinung nach war Johannas Flamme eindeutig zu klein und einen Tick zu breit. Dass er aber superwitzig und sehr charmant war, musste auch sie zugeben.

"Glaub mir, er wird dir keinen Korb geben", fügte Karen, die merkte, dass Johannas Bereitschaft langsam anstieg, aufmunternd hinzu. "Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!"

"Okay", entschloss sich Johanna und atmete tief durch. "Ich werde es tun. Gleich morgen nach dem Unterricht, bevor mich mein Mut wieder verlässt!"

"Du hast WAS getan?", fragte Moritz ungläubig und schaute seinen Kumpel Pascal an, als ob dieser von allen guten Geistern verlassen wäre.

"Ich habe Johanna erklärt, dass ich nicht auf den Schulball gehen würde und sie jemand anderen fragen soll."

"Ich fass´es einfach nicht!", regte sich Moritz weiter auf. "Da lädt dich Johanna - wohlgemerkt, die Frau, von der du mir seit Wochen pausenlos vorschwärmst - zum Schulball ein und was macht Mister-Unsterblich-Verknallt-Aber-Anscheinend-Megabekloppt? Er gibt seiner Traumfrau einen Korb!!! Ich glaub, ich bin hier im falschen Film!"

"Ich habe doch nicht einmal gelogen", verteidigte Pascal seine unrühmliche Vorstellung. "Der Schulball wird ohne mich stattfinden."

"Das sind ja ganz neue Töne", wunderte sich Moritz. "Bis eben bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass wir gemeinsam hingehen und eine Menge Spaß haben würden!"

"Ach, ja?", spottete Pascal. "Verrätst du mir auch, wie man sich auf einem Ball als Nichttänzer amüsieren kann?" Da sich Pascal letzten Winter, als die gesamte Klasse einen Tanzkurs absolviert hatte, bei einem Fußballspiel einen komplizierten Knöchelbruch, zugezogen hatte, konnte er als einziger in der Klasse nicht tanzen. Seine Verletzung hatte ihn für Monate außer Gefecht gesetzt und danach konnt er sich nicht mehr zu einem externen Kurs an einer der städtischen Tanzschulen aufraffen.

"Aaah, da liegt das Problem!" Moritz pfiff durch die Zähne. "Du hast Angst, dich auf der Tanzfläche zu blamieren!"

Pascal nickte. "Am allerwenigsten vor Johanna!"

"Wann ist der Ball genau?", erkundigte sich Moritz.

"In vier Wochen. Wieso?"

"Vier Wochen sind eine lange Zeit:", bemerkte Moritz lächelnd. "Bis dahin haben wir dein Problem ja dreimal gelöst!"

"Und wie, wenn ich fragen darf?", wollte Pascal von seinem Freund wissen, der ihn so unverschämt frech angrinste.

"Die Lösung heißt Melanie", verkündete Moritz mit einem vielsagenden Blick.

"Was hat denn deine Schwester damit zu tun?"

"Wirklich ein toller Schuppen hier!", lobte Karen und trank gierig an ihrer Apfelsaftschorle. "Sogar die Preise sind nicht so mörderisch hoch wie im Abraxas."

Die beiden Freundinnen waren an diesem Samstag ihrer Stammdisko untreu geworden, um den neu eröffneten Music Garden zu testen. Und sie waren vollauf begeistert. Nicht nur von den taschendgeldfreundlichen Preisen, sondern auch von den getrennten Tanzflächen. Denn neben der großen, auf der der die derzeit angesagte Chartmusik gespielt wurde, gab es noch eine zweite, kleinere, die softere Musik spielte. Und zwar in deutlich niedrigerer Lautstärke. So dass die Ohren nicht so sehr dröhnten und man sich richtig unterhalten konnte und nicht brüllen musste. Obwohl die Liebespärchen in dem kleinen Saal überwogen, tummelte sich hier auch das eine oder andere reine Mädchenpaar, ohne sich dabei blöd vorkommen zu müssen. Auch Karen und Johanna hatten zwischendurch mal ihre Foxkenntnisse aufgefrischt, bevor sie sich wieder in das wilde Einzelgetümmel stürzten.

"Ich muss mal eine Runde aussetzen", erklärte Karen. "Sonst mache ich in spätestens einer halben Stunde endgültig schlapp!"

"Wir können ja ein bisschen bei den Schmuseschiebern zuschauen!", schlug Johanna vor, die ebenfalls außer Atem war und daher gegen ein kleine Tanzunterbrechung nichts einzuwenden hatte.

"Gute Idee", antwortete Karen. "Dann lass uns mal gucken und lästern gehen!"

Und neidisch werden, dachte Johanna, sprach es aber nicht aus.

"Schau mal, da drüben sind Philipp und Sandra!", zupfte Karen zwei Minuten später ihre Freundin am Ärmel. "Komm, lass uns mal kurz rüber gehen und hallo sagen!" Philipp war ein Mitschüler von ihnen, Karen seine Freundin, ein Mädchen aus der Parallelklasse.

"Hey, was ist los?", wunderte sich Karen, als Johanna keinerlei Rekation zeigte und mit unbewegter Miene - den Mund nur mehr zu einer schmalen Linie zusammengekniffen, die Augen leblos, das gesamte Gesicht zu einer traurigen Maske verzerrt - in eine völlig andere Richtung starrte. Als Karen ihrem Blick folgte, entdeckte sie sofort die Ursache für Johannas plötzlichen Stimmungswechsel. Nur wenige Meter von den beiden Mädchen entfernt tanzte Pascal mit einem hübschen blonden Mädchen und schien sich seinem fröhlichen Lächeln nach blendend zu amüsieren.

"Mir ist schlecht!", stieß Johanna hervor und wandte sich ab. "Ich muss sofort nach Hause."

"Warum weiß ich nicht, dass Pascal mit Melanie zusammen ist?", rätselte Karen, während sie ihrer Freundin folgte, um sie zu trösten.


"Verarschen kann ich mich selber!", schleuderte Johanna dem ahnungslosen Pascal entgegen. Ihre wütenden Augen schossen Blitze ab und beinahe hätte sich ihre höhnische Stimme vor lauter Zorn überschlagen.

"Was ist denn los?", fragte Pascal, der mit einem begeisterten Ja, aber keinesfalls mit dieser heftigen Reaktion Johannas gerechnet hatte.

"Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist?", wetterte Johanna los. "Erst gibst du mir einen Korb und jetzt kommst du zwei Tage vor dem Ball daher und erklärst mir, du hättest es dir anders überlegt und möchtest doch mit mir hingehen! Meinst du, ich hätte nichts Besseres zu tun, als daheim in meinem stillen Kämmerlein darauf zu warten, dass der feine Herr meine Bitte erhört?" Johanna stieß ein böses Lachen aus. "Nee, nee, mein Lieber, so läuft das nicht!"

"Aber ich habe es mir wirklich anders überlegt!", stammelte ein überaus verstörter Pascal.

"Das kannst du deiner Oma erzählen, aber nicht mir!", spottete Johanna. "Die kauft dir deine windige Story vielleicht gerade noch ab"

"Wenn es aber die Wahrheit ist!"

"Die Wahrheit wird wohl sein, dass dich Melanie in die Wüste geschickt hat und du jetzt nach einem bequemen Ersatz suchst!", schleuderte ihm Johanna giftig entgegen, bevor sie ihm den Rücken zukehrte und mit entschlossenen Schritten davonstapfte.

Nach wenigen Metern holte Pascal sie ein und hielt sie am Ärmel fest.

"Lass mich los!", fauchte Johanna wütend.

"Hör mir nur eine Minute zu, dann kannst du gehen!", bat Pascal. Ob es nun sein flehentlicher Blick oder der verzweifelte Klang seiner Stimme war, der Johanna berührte, konnte Johanna selbst nicht sagen. Doch die eine Minute wollte sie ihm gewähren. "Ich höre."

"Ich habe dir neulich nur deshalb einen Korb gegeben, weil ich mich nicht vor dir als Nichttänzer blamieren wollte", begann Pascal. "Worauf mir Moritz gehörig den Kopf gewaschen hat. Völlig zu recht, natürlich!" Schüchtern lächelte Pascal Johanna an.

"Dann kam Moritz auf die Idee, dass mir seine Schwester Nachhilfestunden im Tanzen geben könnte, was sie dann auch gemacht hat. Erst daheim im Wohnzimmer der Schneiders, dann auch in der Öffentlichkeit. Leztes Wochenende haben wir beispielsweise im Music Garden geübt. Mittlerweile klappt es bei mir mit dem Tanzen dermaßen gut, dass ich mich traue, mit dir auf den Ball zu gehen." Kurze Pause. "Wenn du noch willst.", fügte Pascal leise hinzu und starrte wartend auf den Boden.

Schweigen. Nur wenige Sekunden, aber nach Pascals Empfinden eine halbe Ewigkeit lang.

"Du kannst mich um Viertel vor Sieben abholen", entgegnete Johanna. "Aber keine Minute später!"