Die Nachtigall im Wald

"Hei, Jana, das wär´ doch was für dich!", ertönte Herr Beckers Stimme hinter der Zeitung. Er faltete das unhandliche Papier auf ein Viertel seiner Originalgröße zusammen und reichte es seiner Tochter über den Tisch, die ihm gegenüber saß und gerade damit beschäftigt war, eine Banane in ihr Frühstücksmüsli zu schnippeln.

"Wo?", fragte Jana und griff neugierig nach der Zeitung. Es musste schon etwas wirklich Wichtiges sein, wenn ihr Vater sie extra darauf aufmerksam machte und sich freiwillig von seiner heiß geliebten Lektüre trennte. Bevor Papa mit der Zeitung ncht durch war, war sie für den Rest der Familie nämlich tabu.

"Ganz unten, links.", entgegnete er und wartete anschließend gespannt auf Janas Reaktion.

"Jubiläumsveranstaltung mit großem Gesangswettbewerb", las Jana halblaut vor und vertiefte sich in den Artikel. Ihre Heimatstadt feierte in diesem Jahr ihr 500-jähriges Bestehen mit Festwoche, Umzug und täglichen Abendveranstaltungen, die von den verschiedenen Vereinen gestaltet und ausgerichtet wurden. Den krönenden Abschluss gesamten Feierlichkeiten sollte ein pompöser Galaabend mit anschließendem Feuerwerk am Sonntag bilden. Und für jenen Abend wurde in jenem Zeitungsartikel als besonderer Höhepunkt ein Gesangswettbewerb angekündigt. Mit Vorrunden in den Wochen davor, in denen die fünf besten Teilnehmer für die Endrunde, die dann an der Abschlussveranstaltung stattfand, ermittelt werden sollten. Der Gewinner winkte die professionelle Aufnahme seines Songs auf CD in einem Tonstudio, mit etwas Glück, der Beginn einer Karriere...

"Ich finde, du solltest da mitmachen!", ermunterte Vater Becker seine Tochter, die ihn nach beendeter Lektüre mit zweifelnder Miene anblickte. "Du bekommst nun seit zwei Jahren Gesangsstunden und hast eine wunderbare Stimme. Viel zu schade für den Hausgebrauch unter der Dusche oder nur gelegentlichen Einlagen bei Familienfeiern!"

Jana lächelte bei dieser liebevollen Beschreibung ihrer Singerei. Im Grunde genommen hatte ihr Vater ja Recht. Doch für mehr als einzelne Auftritte im Verwandten- und Bekanntenkreis hatte ihr Mut bisher noch nicht gereicht.

"Ich bin der Meinung, der Öffentlichkeit steht es einfach zu, endlich die beste Sängerin weit und breit kennen lernen zu dürfen!" Jana errötete vor Freude über das dicke Kompliment ihres Vaters. Als kurz darauf sein "Wir melden dich heute noch an!" kam, hatte sie sich bereits mit dem Gedanken daran angefreundet.

"Und mit welchem Lied soll ich deiner Meinung nach antreten?", bat sie um einen Vorschlag.

"Da kommt nur eines in Frage: ´New York´!", lautete die prompte Antwort.

Was hätte Jana von einem bekennende Frank-Sinatra-Fan auch anderes erwarten sollen?

"If I can make it there...", schmetterte Jana zum wiederholten Male die letzten und schwierigsten Takte des Songs, bevor sie sich erschöpft auf ihre mitgebrachte Picknickdecke ins Gras plumpsen ließ und nach der wohltuenden Wasserflasche griff.

Seitdem sie sich zu dem Gesangswettbewerb vor drei Wochen angemeldet hatte, fuhr sie dreimal wöchentlich mit dem Fahrrad in den Wald, der sich nur wenige hundert Meter hinter dem südlichen Stadtrand erstreckte und daher auch ein beliebtes Ziel für Spaziergänger war. Um keinen von ihnen zu begegnen oder als ungewollte Zuhörer zu bekommen, radelte Jana einige Kilometer in das Waldgebiet hinein. Bei ihrem ersten "Übungsausflug" hatte sie eine kleine, etwas abseits des Weges gelegene Lichtung entdeckt, die sie nun zielstrebig anpeilte und zu ihrer Naturbühne umfunktioniert hatte. Dort konnte sie ungestört aus voller Brust singen, gegen gefiedertes oder vierbeiniges Publikum hatte sie nichts einzuwenden. Bei ihren regelmäßigen Pausen machte sie es sich dann auf ihrer Decke bequem, ölte ihre Stimmbänder mit Wasser oder Apfelsaftschorle und belohnte sich mit einzelnen Gummibärchen. Musste sich Jana anfangs noch dazu überwinden, regelmäßig die Strecke rauszufahren und zu üben, hatte sie inzwischen großen Spaß an ihren Ausflügen gefunden und kehrte jedesmal nach diesen eineinhalb Stunden gelöst und entspannt nach Hause zurück.

Dort erwartete sie an den Tagen dazwischen dann eine weitere Trainingseinheit, bei der es dann nicht nur um die Stimme, sondern ihren gesamten Auftritt mit den passenden Schritten, Bewegungen und Gesten ging. Diese Arbeit an der Choreographie fand Jana beinahe anstrengender als das eigentliche Singen und sie war froh, durch ihre Übungseinheiten im Wald wenigstens ihren Gesang nahezu perfektioniert zu haben.

Noch vier Tage, dann käme sie mit dem Vorsingen dran, wo es um die endgültige Qualifikation ging. Auf geht´s, Jana, ein letztes Mal, feuerte sie sich selbst an und erhob sich von ihrem gemütlichen Platz, um beste Voraussetzungen für die wichtige Atmung zu bekommen. "Start spreadin´the news...",


Was war denn das? Erstaunt hielt David im Laufen inne und lauschte.

Da sang ja jemand! Und, soweit er das beurteilen konnte, sogar ziemlich gut!

Er hatte bei seinen täglichen Joggingrunden zwar schon einiges erlebt, vor allem was knutschende Liebespärchen betraf, aber eine trällernde Nachtigall mitten im Wald war ihm dabei noch nicht unter gekommen.

Seit drei Jahren schon spulte David sein tägliches Trainingsprogramm gewissenhaft herunter, Ausreden seines inneren Schweinehundes hatte er noch nie gelten lassen, schließlich wollte er es in den Leichtathletik-Förderkader schaffen, was nur mit eiserner Disziplin zu erreichen war. Daher konnten seine Nachbarn ihre Uhr danach stellen, dass David jeden Tag auf die Minute genau um 16 Uhr das Haus verließ, um sich auf seine etwa 10 km lange Strecke zu begeben. Wobei er sich jedoch nicht festlegen ließ, war der jeweilige Trainingsort. Mal zog es ihn in den Park, dann wieder auf die Sportanlagen, mal an die Flussauen und heute eben in den Wald. Das erste Mal seit langem wieder.

"...it`s up to you, New York, New York!", ertönte es rechts von ihm. Nicht schlecht, Herr Specht! David war von der unbekannten Sängerin, sichtlich beeindruckt. Er hatte eigentlich insgeheim damit gerechnet, dass diese glockenhelle Stimme spätestens an dieser Stelle des Liedes, wo sich die Töne in kaum zu bewältigende Höhen schraubten, an ihre Grenzen stoßen würde. So wie es leider vielen Sängern ging, die sich an diesem beliebten Lied versuchten und ihren bis dato akzeptablen Vortrag durch diese letzten mühsam heraus gequetschten und qualvoll gepiepsten Laute auf peinliche Weise beenden.

Vorsichtig schlich David in die Richtung, aus der der Gesang gekommen. Mist! Jetzt war es absolut still! Warum hatte sie nur aufgehört? Musste er sich jetzt mehr rechts halten oder doch ein Stück weiter links? Mensch, Mädchen, sing!

Aber Jana tat ihm diesen Gefallen nicht, denn für sie war die Übungsstunde definitiv beendet. Sie packte ihre Sachen zusammen, schwang sich auf ihren Drahtesel und radelte mit beachtlicher Geschwindigkeit, am Himmel zogen sich nämlich bedrohlich dunkle Regenwolken zusammen, nach Hause.

Dass an der einen Gabelung unmittelbar hinter ihr ein verschwitzter, leise fluchender Junge auf den Waldweg trat und ihr neugierig hinterher schaute, bekam Jana nicht mehr mit.

"Startnummer 5, Jana Becker!", kündigte der Moderator dem Publikum in der hoffnungslos überfüllten Stadthalle an und machte die Bühne für die letzte Teilnehmerin des Gesangswettbewerbes frei.

Das Publikum war gespannt und hoffte, dass die letzte Sängerin ihnen ihre Entscheidung erleichtern würde. Die bisherigen Beiträge waren zwar allesamt nicht schlecht, aber keiner so berauschend gewesen, dass er den ersten Preis und eine CD-Aufnahme verdient hätte.

Jana holte tief Luft, zupfte zum letzten Male ihr freches Kostüm zurecht, - sie trug wie eine Revuesängerin "stilgemäß" Frack, Zylinder und Netzstrumpfhose - und betrat die Bühne, wo sie vom freundlichen Applaus ihrer Jury empfangen wurde.

Sobald die ersten, wohlbekannten Takte ertönten, begann die Show. Als Jana den mitreißenden Rhythmus mit den Fingern schnipste, fiel ihr begeistertes Publikum in entsprechendes Händeklatschen ein.

Und David, der zusammen mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester, die in der Vorrunde ausgeschieden war, eher lustlos zu dem Galaabend gegangen war, war plötzlich hellwach und wartete mit heftigem Herzklopfen auf den Einsatz der Stimme.

"Start spreadin´the news..." Das war sie! Das war die Nachtigall aus dem Wald! Neugierig reckte er den Kopf in die Höhe, um einen Blick auf Jana zu werfen. Was er von der drittletzten Reihe aus sehen konnte, war nicht schlecht...

Das Mädchen konnte nicht nur hervorragend singen, sondern war auch ziemlich hübsch und hatte eine gute Figur. Dann die konnte David wegen Janas freizügigen Kostüms sogar von ganz hinten beurteilen.

Jana Becker. David nahm sich fest vor, über seinen eigenen Schatten zu springen - in bezug auf Mädchen war er furchtabr schüchtern - und sie anzurufen.

Vorausgesetzt, sie könnte sich mal aus dem Tonstudio loseisen...

© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright Corel Gallery Magic und Corel Draw, verwendet in Lizenz