Nikolaus und Magd Ruprecht
"Das meinst du doch nicht wirklich ernst, oder?"
Eva blickte ihren Bruder Martin prüfend an. Sein Gesichtsausdruck sprach jedoch Bände und machte ihr unmissverständlich klar, dass seine Frage sehr wohl ernst gemeint war.
"Das kannste vergessen!", wehrte Eva energisch ab und fügte im Brustton der Überzeugung hinzu: "Das mache ich bestimmt nicht!"
Sie wusste gleich, dass irgend etwas im Busch war, als Martin vor fünf Minuten sachte an ihrer Zimmertür geklopft hatte. Was er so gut wie nie tat. Bisher war das erst zweimal der Fall gewesen und jedesmal mit einer lästigen Aufgabe für Eva verbunden. Beim ersten Mal sollte sie als eine Art Liebesbotin herhalten und bei einer ihrer Klassenkameradinnen, ausgerechnet ihrer schlimmsten Feindin, ein Rendezvous mit ihm aushandeln, da er sich unsterblich in diese Zicke verknallt hatte. Das war vor zwei Jahren gewesen und hatte zu einer ultrakurzen - satte fünf Tage! - Romanze geführt. Immerhin. Beim zweiten Mal sollte sie dann bei den Eltern schön Wetter machen, nachdem er Vaters Wagen zu Schrott gefahren hatte.
Und jetzt, jetzt wollte Martin, dass sie für seinen Freund und Kommilitonen Ingo als Knecht Ruprecht einsprang.
Als Studenten litten die beiden unter notorischem Geldmangel, den sie in der Vorweihnachtszeit dadurch abmilderten, indem sie als Nikolaus und Knecht Ruprecht durch die Kindergärten und Vereine zogen. Die Leihgebühr für die prächtigen Kostüme hatten sie bereits nach dem ersten Auftritt heraus. Die ersten Termine in diesem Jahr hatten reibungslos geklappt und an diesem Wochenende standen die nächsten an. Ganze sieben, da es das offizielle Nikolauswochenende war. Leider hatte Ingo sich eine schlimme Infektion zugezogen und lag mit über 39 Fieber im Bett. An einen Auftritt war nicht zu denken. Das sah Eva ja auch ein. Allerdings nicht, dass s i e jetzt den Knecht Ruprecht mimen sollte.
"Ich bin doch eine Frau!", wehrte Eva ab und sie merkte selbst, wie lahm diese Ausrede klang.
"Bei deiner Größe würde das überhaupt niemand merken. Und außerdem ist es auch völlig wurscht!", wiegelte Martin den Einwand seiner Schwester ab.
Eva seufzte. Im Grunde hatte Martin ja Recht. Mit ihrem Gardemaß von 1,74 m konnte Eva in einem entsprechenden Kostüm jederzeit als junger Mann durchgehen. Obwohl sie gerade mal 16 Jahre alt war. Sie würde von ihrer Figur her vielleicht etwas schmächtig aussehen, aber schließlich liefen nicht alle Typen wie wandelnde Muskelpakete à la Arnie herum.
"Gibt es denn keinen deiner Studienkollegen, der für Ingo einspringen könnte?", suchte Eva erneut nach einer Fluchtmöglichkeit.
"Wenn es so wäre, würde ich dich sicher nicht fragen!", entgegnete Martin. "Entweder haben sie irgendwelche andere Jobs oder wohnen zu weit weg."
Eva wusste, dass Martin sie nicht anlog, nur um sie in die Ecke zu drängen. Klar, alle Studenten brauchten Geld und hatten Jobs. Oft am Wochenende zu Hause in ihren Heimatstädten. So wie Martin eben auch.
"Dann musst du eben als Nikolaus alleine auftreten, der ist ja auch viel wichtiger als sein Knecht!", beharrte Eva weiterhin auf ihrer ablehnenden Haltung. "I c h werde mir auf jeden Fall keinen Bart ins Gesicht kleben!"
Nur eine Stunde später zierte ein grauer, struppiger Vollbart Evas Gesicht.
"Mensch, das kratzt ja ekelhaft!", maulte sie und blickte neidisch auf Martins weißen, bis zum Gürtel wallenden Bart, der wesentlich weicher aussah.
"Das ist nur am Anfang so", tröstete Martin seine verkleidete Schwester, "nach einer Weile ist dieses Gefühl weg, glaub mir!" Eva gab einen knurrenden Laut von sich, der irgendwo zwischen Ärger und Spaß lag. Ja, nach ihrer anfänglichen Weigerung hatte sie plötzlich Gefallen an der Vorstellung gefunden, in die Rolle des Knecht Ruprechts zu schlüpfen und aufgeregte Kinder zu erschrecken. So, dass sie vor Begeisterung und Entsetzen zugleich quieken und kreischen würden. Außerdem, wann dürfte sie je wieder so viele Hosenböden versohlen?
"Du siehst einfach klasse aus!", bewunderte Martin seinen weiblichen Kumpanen. Worüber sich dieser ehrlich freute.
"Und man merkt wirklich nichts?", fragte Eva zum wiederholten Male nach. Sie hatte immer noch Angst, dass sie als weibliche "Magd" Ruprecht enttarnt werden könnte.
"Nein", beruhigte sie Martin. Das war etwas geschwindelt, denn bei einem genauen Blick könnte man wohl eine leichte Wölbung im Brustbereich von Knecht Ruprecht erkennen. Allerdings nur, wenn man sehr genau schaute. Und auch nur eine kleine Wölbung.
Eva hatte sich ihre langen Haare hochgesteckt und einen riesigen Schlapphut aus schwarzem Filz aufgesetzt, der ihr weit ins Gesicht reichte, so dass man es dank des aufgeklebten Bartes und geschickter Schminke nicht als das eines jungen Mädchens identifizieren konnte. Dazu trug sie schwarze Lederhandschuhe und einen ebenfalls schwarzen, weiten, beinahe bodenlangen Mantel , den sie in der Taille mit einem groben Seil nur locker zusammen gebunden hatte. Fest genug, dass es ihr nicht über die Hüfte hinab rutschen konnte, aber auch locker genug, um ihre typisch weiblichen Rundungen zu verbergen. Da sie keine schwarzen Stiefel besaß und sie auch nicht in welchen ihres Bruders herum stolpern wollte, die ihr etliche Nummern zu groß gewesen wären, hatte Eva sich für ihre Turnschuhe als Fußwerk entschieden. Gut, dass der Mantel so lang war, dann würden ihre blau-weißen Treter nur sehr selten hervor blitzen. Es konnte losgehen!
"Das ist der letzte Termin, dann haben wir es geschafft", kündigte Martin an, als sie vor dem Vereinsheim des Fußballklubs parkten.
"Zum Glück!", entgegnete Eva erleichtert. Sie hatten mittlerweile nämlich zwei Kindergärten und die Musikschule besucht und dabei knapp hundert Kinder "versorgt". Was für Eva eine beträchtliche Anzahl wilder Verfolgungsjagden quer durch die jeweiligen Räumlichkeiten und eine ebenso beeindruckende Menge an zwar sachten, aber deswegen für ihren Arm nicht minder anstrengenden Schläge bedeutete.
"Bringen wir es hinter uns!", spornte sie sich selbst an, nachdem Nikolaus und sein Gehilfe von dem zuständigen Jugendbetreuer mit dem notwendigen Material eingedeckt worden waren und sie vor der Eingangstür zum Festsaal standen.
"Noch fünf Mannschaften bis zum Ziel!", feuerte Martin seine sichtlich erschöpfte Schwester an.
Eva schnaubte, hob ergeben die Schultern und klopfte energisch mit ihrer Rute an die Tür.
"Nun wollen wir doch mal sehen, ob die ganz Großen auch so brav wie die Kleinen waren", brummte Martin mit seiner tiefen Nikolausstimme, "Oder ob ihnen mein Knecht Ruprecht eine Tracht Prügel verpassen muss!"
Gelächter, das sofort erstarb, als Eva die lange, dicke Rute auf den Boden knallen ließ.
"A-Jugend, geschlossen vortreten!", befahl der heilige Nikolaus. Als Eva ihren Blick über die Gesichter ihrer letzten Opfer gleiten ließ, schlug ihr Herz mit einem Male furchtbar wild. Mensch, da war ja der Thilo aus der Parallelklasse dabei! Sie wusste ja gar nicht, dass der Fußball spielte! Hoffentlich würde er sie nicht erkennen! Vor lauter Aufregung wurden ihre Hände ganz feucht.
"Thilo Berghoff", las Martin gerade vor, "fleißig im Training, aber manchmal unbeherrscht auf dem Platz!"
Eva grinste. Soso, ein kleiner Zornickel war der Thilo. "Drei Schläge werden ihm das schon austreiben!", verkündete Nikolaus die Strafe. "Ans Werk, Knecht Ruprecht!"
Doch Thilo wollte sich seiner Strafe entziehen und ergriff die Flucht, als Eva sich ihm näherte. Die Menge lachte vor Begeisterung, als ein verzweifelter Knecht Ruprecht den wieselflinken Thilo vergeblich verfolgte. Als sich die beiden Hauptdarsteller des Schauspiels gerade in einer entfernten Ecke Auge in Auge gegenüber standen - Thilo lauernd, Eva völlig entkräftet - hatte Eva plötzlich die Nase voll von dem anstrengenden Theater und sie pfiff nun darauf, ob Thilo sie erkennen würde oder nicht.
"Mensch, jetzt lass dich endlich erwischen!", zischte sie ihm wütend zu.
Thilo staunte nicht schlecht, als Knecht Ruprecht eindeutig weibliche Töne von sich gab! Das war ja hoch interessant!
"Bitte, ich kann nicht mehr!", flehte Eva verzweifelt, den Tränen nahe.
"Aber nur, wenn du dich mir zu erkennen gibst, okay?" Eva nickte. "Gut, morgen Nachmittag um Fünf beim Kreisler . Kreisler war das beliebteste Café der Stadt. Eva nickte erneut.
Sie hätte jetzt alles versprochen.
Thilo war zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da und fragte sich im Stillen, ob er sich nicht zum Narren machen würde.
Warum sollte das Mädchen, das den Knecht Ruprecht gespielt hatte, sein Versprechen halten und zu dem Treffen kommen? Wahrscheinlich würde sie ihn auslachen, weil er sie so leicht hatte davon kommen lassen. Verdammt, er hätte ein Pfand als Sicherheit verlangen müssen. Dass er da im entscheidenden Moment nicht daran gedacht hatte! Er schalt sich wegen seiner Leichtgläubigkeit einen Idioten und behielt den Eingang des Cafés im Auge.
Hey, war das nicht die Eva aus der Parallelklasse? Thilo staunte nicht schlecht, als sie schnurstracks auf ihn zukam. Mit einem spitzbübischen Lächeln im Gesicht und einem kleinen Schokoladennikolaus in der Hand.
"Der ist dafür, dass du mich gestern so fair gerettet hast!", bedankte sie sich und stellte den Nikolaus vor ihm auf den Tisch.
"Du?", staunte Thilo überrascht.
Eva nickte grinsend und ließ sich auf den Stuhl neben ihn sinken. Doch Thilo hatte längst den Beweis. Eva trug nämlich exakt die gleichen Turnschuhe, die unter Knecht Ruprechts Mantel hervor gelugt hatten.
"Wenn du das Christkind erwartet hast, muss ich dich leider enttäuschen!", scherzte Eva und hoffte, Thilo würde das verräterische Zittern in ihrer Stimme ebenso wenig bemerken wie ihre große Nervosität. Von der sie gar nicht so recht wusste, woher sie eigentlich kam.
"Was brauch ich das Christkind, wenn mir soeben ein leibhaftiger Engel erschienen ist!", erwiderte Thilo und bedachte Eva dabei mit einem unergründlichen Blick. Der ihr dermaßen unter die Haut ging, dass es ihren Puls hochjagte. Und sie erröten ließ. Instinktiv legte sie ihre Hände an ihre Wangen, als ob sie dadurch die Röte vertreiben könnte.
"Ist doch süß!", meinte Thilo, bevor er ihre schützenden Hände ergriff und behutsam in seine nahm. "Dass so sanfte Hände so hart zuschlagen können!"
Eva musste über seinen aufgesetzten vorwurfsvollen Blick lachen.
Das Eis war gebrochen.
"Sie können aber auch ganz sanft sein!"
Was Thilo hoffte, bald erleben zu dürfen...
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