Der rätselhafte Wichtel

"Schau mal, da hängt was an deinem Fahrrad!"

Claire hatte vor ihrer Freundin Isabel ihre nebeneinander geparkten Drahtesel erreicht und daher zuerst das kleine Päckchen an Isabels Gepäckträger entdeckt. Isabel nahm die kleine Schachtel in die Hand und begutachtete sie unschlüssig von allen Seiten, so, als würde sie etwas Gefährliches oder Unheimliches in ihr vermuten.

"Willst du sie nicht aufmachen?", drängelte Claire ungeduldig, die vor Neugier schier platzte. "Na. Mach schon!"

Isabel zog behutsam an der Schleife, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in ihre Jackentasche. Claire rollte bei so viel Gewissenhaftigkeit ihrer Freundin genervt mit den Augen. Als ob sie Isabel und ihr stets pflichtbewusstes Wesen nicht schon seit den gemeinsamen Kindergartentagen genug kennen würde.

Als Isabel den Deckel ab nahm, fand sie fünf Mozartkugeln und einen Zettel mit folgender Aufschrift: "Ihre Teile liefern dir die ersten vier Buchstaben für des Rätsels Lösung. Ein Verehrer deines Geschmacks."

"Was soll denn das bedeuten?", fragte Isabel verwundert.

"Vielleicht will dich da irgend ein Witzbold veräppeln!", meinte Claire und fügte nach kurzem Überlegen hinzu. "Obwohl, wozu dann der Aufwand, das Vergnügen könnte der Betreffende ja wohl um Einiges billiger haben!" Sie nahm der grübelnden Isabel den Zettel aus der Hand und las ihn nochmals aufmerksam durch. "Auf jeden Fall weißt du nun, dass du einen Verehrer hast!" Sie lachte kurz auf. "Das ist doch immerhin auch schon was!"

"Was ist das nur für ein komisches Rätsel?", dachte Isabel laut nach. "Ihre Teile liefern dir die ersten vier Buchstaben", wiederholte sie. "Welche Teile? Was für Buchstaben?" "Nun, sie bestehen aus Pistazien, Nougat, Marzipan und Schokolade. Aber was damit anfangen, kann ich nicht", half Claire beim Lösen des Rätsels. "Da bräuchten wir genauere Hinweise!" Sie schnallte ihre Schultasche auf den Gepäckträger und stieg auf.

"Und woher weiß er, dass ich Mozartkugeln so gerne esse?", wunderte sich Isabel weiter.

"Am besten vergisst du das Ganze einfach!", schlug Claire vor, die die Geschichte bereits wieder langweilte. "Und isst die Dinger einfach auf. Ich helfe dir gerne dabei!" Lachend trat sie in die Pedale und trieb Isabel so zur Eile an.

Vier Tage später, Isabel hatte inzwischen kaum mehr einen Gedanken an die rätselhafte Geschichte verschwendet, fand sie ein weiteres Päckchen. Diesmal in ihrer Jackentasche, als sie nach Schulschluss ihren Dufflecoat anzog und in die Tasche griff, um ihre Handschuhe heraus zu holen. Erneut im Beisein ihrer besten Freundin Claire, der sie das Päckchen wortlos unter die Nase hielt.

"Wow, es gibt tatsächlich eine Fortsetzung!", rief sie überrascht aus. "Jetzt sind wir doch mal gespannt!" Die Verwendung des Plurals machte Isabel unmissverständlich klar, dass sie das Päckchen auf der Stelle zu öffnen hätte.

Mit klopfendem Herzen löste Isabel das Band auf und wickelte einen Schlüsselanhänger mit ihrem Sternzeichen - sie war Löwe - aus, an dem wieder ein Zettel befestigt war.

"Legst du dich quer wie eine Wildkatze oder summst du wie ein Stubentiger? Der Löwe liefert dir die nächsten vier Buchstaben. Ein Verehrer deiner mathematischen Fähigkeiten.", las Isabel vor.

"Das wird ja immer schlimmer!", stöhnte Claire verzweifelt. "Ich kapier überhaupt nichts mehr!"

Isabel betrachtete nachdenklich den kleinen Löwen in ihrer Hand, als ob sie darauf wartete, dass er ich dies Rätsels Lösung liefern würde. Was sollte nur dieser seltsame Hinweis?

Nach ihrer ersten heftigen Reaktion fand Claire langsam Gefallen an dem Rätsel. "Auf jeden Fall wissen wir jetzt, dass dein Verehrer an unserer Schule ist.", meinte sie. "Und wahrscheinlich sogar in unsere Klasse geht", führte Isabel den Gedankengang ihrer Freundin fort.

"Wieso?", fragte Claire. "Sonst wüsste er wohl kaum, dass Mathe mein bestes Unterrichtsfach ist, oder?", antwortete Isabel. "Stimmt.", pflichtete ihr Claire bei und grinste. "Aber das schränkt den Kreis der möglichen Kandidaten wesentlich ein. Auf....", sie ging in Gedanken die Sitzordnung durch, "...16 Exemplare."

"Timo und Florian müssen wir ebenfalls abziehen, die haben ´ne Freundin", überlegte Isabel. "Bleiben nur noch 14 übrig. Nur!" Sie lachte.

"Komm, lass uns probieren, die neuen Hinweise zu deuten!", holte Claire sie in die Wirklichkeit zurück. "Die Lösung muss in dem komischen ersten Teil liegen", vermutete sie, nachdem sie den Text mehrmals gelesen hatte. "Irgendwas stört mich an dieser Formulierung." Sie überlegte und akute dabei auf ihrer Oberlippe, eine Angewohnheit, die Isabel an ihrer Freundin nur zu vertraut war.

"Stubentiger summen doch nicht, sie schnurren doch!", wunderte sich Claire. "Und welche Wildkatze legt sich schon quer? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!" Sie blickte Isabel ratlos an. "Und was soll dann der Hinweis auf deine mathematischen

Fähigkeiten? Das muss eine bestimmte Bedeutung haben."

Als Isabel sich die Äußerungen Claires nochmals durch den Kopf gehen ließ, fand sie plötzlich die Lösung. "Ich hab´s!", jubelte sie. "Die Wörter summen und quer weisen auf den mathematischen Begriff Quersumme hin!"

"Aber was hilft uns das weiter?", hakte Claire nach. "Du hast den Löwen vergessen, der soll dir doch die Buchstaben verraten!"

"Tut er auch", fuhr Isabel eifrig fort. "Er ist mein Sternzeichen."

"Da erzählst du mir nichts Neues!", entgegnete Claire. "Wenn wir jedoch eine Quersumme bilden wollen, brauchen wir Zahlen! Und der Löwe... - Mensch, dein Geburtstag, wir müssen dein Geburtsdatum nehmen!" Das Rätselfieber hatte sie inzwischen derart gepackt, dass sie regelrecht schrie. Die Zeit hatten beiden ohnehin längst vergessen. "6.8.1983", rechnete Claire laut, "Das gibt eine Quersumme..."

"..von 8.", beendete Isabel. "Und die Zahl Acht besteht aus vier Buchstaben."

"Mensch, dann müssen wir nur die Buchstaben richtig zusammen setzen, um die Lösung zu finden!", rief Claire aufgeregt und kramte nach einem Zettel, um alle Buchstaben aufzuschreiben. A, C, H, T von heute und M, P, S, N vom ersten Mal.

"Ich glaube, da fehlen noch ein paar!", seufzte sie nach einigen Minuten. "Vor allen Dingen Vokale!", stimmte ihr Isabel zu und wandte sich nun endlich zum Gehen.

"Kommt Zeit, kommt Päckchen!", rief ihr Claire zum Abschied noch zu.

Und sie sollte Recht behalten.

Das dritte Päckchen lag in Isabels Schultasche, als sie von der Pause zurück ins Klassenzimmer kam.

Da ihr Englischlehrer ebenso pünktlich wie streng war und sie mittwochs mit einer Doppelstunde beglückte, mussten sich die beiden Freundinnen bis zum Unterrichtsende gedulden, bis sie sich ungestört dem Päckchen widmen konnten. Isabel wartete ab, bis sie die letzten im Raum waren, bevor sie das Päckchen mit vor Aufregung zitternden Fingern öffnete. Es enthielt ein Jo-Jo und eine weitere geheimnisvolle Botschaft. "Ich schenke dir zwar ein Spielzeug, aber ich treibe kein Spiel. Hoffentlich drehst du dich nicht in ihm und ich mich bald mit dir. Ein Verehrer deiner Tanzkünste."

"Hey, heute ist das Rätsel ja richtig leicht!", freute sich Claire. "Er meint den Begriff Kreis. Oder die Mehrzahl, Kreise: Das Jo-Jo macht Kreise, wir sollen uns nicht in ihm drehen und beim Tanzen macht man auch Kreise!", erklärte sie eifrig und ergänzte ihre bisherige Buchstabenliste um die fünf neuen.

Sie knobelten zehn Minuten und probierten sämtliche Jungennamen ihrer Klasse durch, bis am Ende zwei mögliche Kandidaten übrig blieben.

Achim Spenckerts und Markus Pechstein.

"Und was willst du jetzt tun?", erkundigte sich Claire.

Isabel zuckte mit den Schultern. "Was wohl, auf den letzten Buchstaben warten natürlich!"

"Willst du sie nicht ansprechen?", bohrte Claire nach.

Isabel schüttelte energisch den Kopf. "Nein." Dann ein spitzbübisches Lächeln. "Aber beobachten!" Claire seufzte, denn sie hätte die Entwicklung der in ihren Augen furchtbar romantischen Geschichte nur zu gerne beschleunigt.

Nachdem eine Woche lang überhaupt nichts passiert war und sich keiner der Kandidaten trotz Isabels hartnäckiger und - wie sie hoffte - unauffälliger Beobachtung verriet, beschlichen Isabel ernsthafte Zweifel, ob sie die Rätsel auch wirklich richtig gedeutet hatten. Der andauernden Funkstille nach wohl nicht.

Sollte sie entgegen der Beteuerungen des mysteriösen Absenders doch einem üblen Scherz aufgesessen sein?

Als Isabel bereits nicht mehr daran glauben wollte, kam das vierte Päckchen. Diesmal steckte es in ihrer Sporttasche. Claire quiekte begeistert. "Na endlich! Die grässliche Anspannung war ja kaum mehr auszuhalten!"

Isabel zögerte ein wenig mit dem Öffnen. Denn nun stand die endgültige Entscheidung unmittelbar bevor. Sie holte noch einmal tief Luft und riss - ganz gegen ihre Natur - entschlossen das Papier auf. Sie fand ein wunderschönes blaues Halstuch, doch keine Botschaft.

"Das gibt´s doch nicht!", rief Claire ungläubig und untersuchte das Papier darauf hin, ob der Zettel möglicherweise irgendwo hängen geblieben war oder so winzig klein war, dass man ihn übersehen konnte.

Fehlanzeige.

Keine Botschaft. Kein Rätsel. Keine Lösung.

Ratlos blickte sie ihre Freundin an.

"Ich weiß, wer es ist.", sagte da Isabel plötzlich leise zu ihrer großen Überraschung.

"Aber es war kein Hinweis dabei?", wunderte sich Claire.

"Doch!", widersprach Isabel. "Das Tuch ist der Hinweis."

"Das Tuch? Warum das Tuch? Könntest du mir bitte erklären, was in deinem Kopf vorgeht?" Claire war beinahe ärgerlich. Warum musste Isabel sie nur so lange auf die Folter spannen?

"Das Tuch ist blau", erklärte Isabel mit einem wissenden Lächeln im Gesicht. "Ultramarinblau".

"Dann ist es also...", folgerte Claire.

"Markus", vollendete Isabel den Satz.

Sein errötendes Gesicht, das sie am gleichen Nachmittag sah, als sie bei Markus klingelte und er die Haustür öffnete, bestätigte ihre Vermutung.

"Ich habe nun mal eine Schwäche für clevere Mädels!", waren seine ersten Worte. Kein schlechter Anfang, wie Isabel fand...

© 2000 Anja Gerstberger