Sprung ins Glück
"Weiber sind doch viel zu feige für so was!", behauptete Manuel und grinste verächtlich. "Der 5-m-Turm ist was für mutige Männer!"
"So wie du einer bist", konterte Steffi schlagfertig, deswegen bist du auch noch nicht gesprungen!"
Schallendes Gelächter bei der gesamten Clique. Sie hatten sich wie immer bei schönem Wetter beinahe vollständig im Freibad getroffen und an ihrem Stammplatz einen beachtlich großen Badetuch-Flecken-Teppich gebildet. Kein Wunder, bei 15 Leuten! Lustige Wortgefechte wie dieses waren bei ihnen an der Tagesordnung, wenn auch nicht immer mit so boshaftem Unterton wie eben bei Manuel.
"Reden wir in zwei Minuten noch mal drüber!", giftete Manuel Steffi an, erhob sich und marschierte Richtung Sprungturm. Die Clique schaute gespannt zu, wie er betont langsam - aus Angst oder um seinen Auftritt möglichst lange zu gestalten?- die Metall-Leiter zur Betonplattform erklomm. Oben winkte er ihnen zu und wartete einen kurzen Moment. Nicht etwa, weil der Andran so groß gewesen wäre und er warten müsste. Nein, er war der Einzige dort oben in luftiger Höhe und genoss daher die Aufmerksamkeit zahlreicher Schwimmbadbesucher. Endlich ging er vor zur Kante, spannte seinen Körper an und sprang mit einem ansehnlichen Köpfer ins Becken.
"So, und jetzt die Damen, bitte!", forderte er Steff auf, als er kurz darauf wieder triefend vor ihnen stand.
"Sorry, aber ich muss leider gehen", erklärte Steffi und fing an, ihre Sachen einzupacken. "Hab in zwanzig Minuten einen Zahnarzttermin!"
"Kann ja jeder sagen!", spottete Manuel. "Du willst dich nur vorm Springen drücken!"
"Wir können gerne tauschen!", entgegnete Steffi und blickte Manuel herausfordernd an.
"Sie muss wirklich zum Zahnarzt!", schaltete sich nun Tina, Steffis beste Freundin und eher ein "stilles Wasser" in die Auseinandersetzung ein. "Das ist echt keine faule Ausrede."
"Dann musst eben du den Ruf der Mädchen retten und springen!", deutete Manuel auf Tina. "Um zu beweisen, dass Weiber nicht feige sind!"
Tina konnte den großspurigen Manuel ohnehin nicht besonders gut leiden, aber wenn er von Mädchen als "Weiber" redete, packte sie stets eine leise Wut. "Das sind doch bloß billige Sprüche, die du da ablässt!", versuchte sie, ihn von seinem unangenehmen Vorschlag abzulenken.
Allerdings ohne Erfolg. Manuel blieb hartnäckig. "So billig können sie gar nicht sein, wenn ihr nicht springt und ich damit Recht behalte!"
Dem war nichts entgegenzusetzen, musste Tina leider eingestehen. Wahrscheinlich wäre das Thema dann auch erledigt gewesen, wenn Manuel nicht auf seine bekannt boshafte Art nachgelegt hätte. "Weiber sind eben wirklich nur Menschen zweiter Klasse, schwach und feige!"
"Komisch, dass du dann ein knappes Jahr mit so einem minderwertigen Exemplar befreundet gewesen bist!", parierte Steffi, mittlerweile fast fertig angezogen und abmarschbereit, Manuels hässliche Attacke. "Oh, entschuldigung!", fügte sie scheinheilig hinzu, "Ich habe ja völlig vergessen, dass Valerie mit dir Schluss gemacht hat!"
Gespannte Stille. Wie würde Manuel auf Steffis schmerzlichen Hinweis reagieren? Bis vor zwei Wochen waren Manuel und Valerie das Traumpaar der Schule gewesen. Er, der beliebte Sportsmann und Entertainer, und Sie, die bildhübsche Tochter eines wohlhabenden Unternehmers. Bis Valerie Manuel für einen anderen den Laufpass gegeben hat. Dass ihr Neuer bereits Student war und ein schnittiges Cabriolet fuhr, hat Manuels Selbstbewusstsein - 17jähriger nicht motorisierter Schüler nicht gerade gut getan. Da die Clique in seiner Gegenwart bisher tunlichst das Thema Valerie vermieden hatte, musste ihn nun Steffis Frontalangriff gehörig weh tun.
"Valerie war ja auch was besonderes", erwiderte Manuel erstaunlich ruhig. "Sie traut sich, vom Fünfer zu springen!" Touché! Gut gekontert, dem konnten die anderen nichts hinzufügen, da sie alle mit eigenen Augen Valeries bewundernswerte Sprünge gesehen hatten. Bis vor zwei Wochen eben. Seit zwei Wochen turtelte Valerie nämlich mit ihrem Neuen an einem anderen lauschigen Plätzchen auf der Liegewiese. Von ihrem Stammplatz zu Manuels Qual leider herrlich einsehbar.
"Scheißweiber!", knurrte Manuel verärgert. "Feiges Pack!"
Das gab Tinas sonstiger Zurückhaltung den Rest. "Blöder Macho!", beschimpfte sie ihn.
"Ach ja?", höhnte Manuel mit seinem fiesesten Grinsen im Gesicht. "Dann spring doch, um die Ehre der holden Weiblichkeit wiederherzustellen!"
"Werd ich auch!", kündete Tina zur Überraschung aller -auch zu ihrer eigenen- an und lief mit raschen, von ihrer Wut beschleunigten Schritte zum Sprungturm.
"Mensch, Tina, mach kein Quatsch!", rief Steffi ihrer Freundin hinterher, wohl wissend, dass Tina für ein solch gewagtes Unternehmen der Mut fehlen wird und sie unter dem Gejohle Manuels wieder würde herunter steigen müssen. Ein Situation, die sie ihrer besten Freundin allzugerne ersparen würde. Doch Tina hörte ihr Rufen nicht mehr oder wollte es nicht hören. "Verdammt; ich muss los!", rief Steffi nach einem Blick auf ihre Uhr aus. "Tina, komm zurück!" Ihr verzweifelter Ruf war umsonst.
"Ich werd mich um sie kümmern", versprach nun Johannes und schaute Steffi beruhigend an. "Ich kriege das schon hin, keine Angst!"
"Danke.", wandte sich Steffi erleichtert an Tinas vermeintlichen Retter. "Zum Glück sind nicht alle so bescheuert wie Manuel!" Was durchaus stimmte, denn Johannes war bei gleichem Alter doch wesentlich vernünftiger und besonnener als seine Kumpels. So wie jetzt, als Manuels Provokation kein Spaß mehr bedeutete und Tina in eine schwierige Situation gebracht hatte.
"Es ist viel höher, als ich gedacht habe", begrüßte ihn wenig später das Opfer, zittern auf der Plattform stehend.
"Du musst nicht springen, Tina", redete Johannes auf seine verängstigte Klassenkameradin ein. "Du kannst jederzeit wieder die Leiter hinunter, ohne zu springen. Du wärest wirklich nicht die Erste, die es sich hier oben anders überlegen würde."
"Und alle würden mich auslachen!", stieß Tina bitter hervor.
"Nicht alle, nur die Dummen!", wandte Johannes ein.
"Diesen Triumph gönne ich dem blöden Manuel aber nicht!"
"Vergiss Manuel! Der ist es doch gar nicht wert, dass du dich eine Sekunde über ihn aufregst!"
"Er würde mich ewig mit dieser Geschichte aufziehen!"
"Na, und? Komm, lass uns jetzt gemeinsam wieder hinunter steigen", forderte Johannes sie behutsam auf.
"Du würdest mitkommen ?", fragte Tina und starrte Johannes ungläubig an. So viel Rücksichtnahme hatte sie nicht erwartet.
"Was wär schon dabei?" Gleichgültiges Schulterzucken.
"Das möchte ich dir aber nicht antun", meinte Tina.
"Wenn du mein Angebot nicht annehmen willst, musst du wirklich springen."
"Gut." Tina holte tief Luft. "Und zur Belohnung bekomme ich ein gigantisch großes Selbstbewusstsein und einen legendären Ruf an der Penne."
Johannes lachte. "Und von mir bekommst du..."
Was er ihr ins Ohr flüsterte, wird wohl ihr Geheimnis bleiben, aber es muss was Tolles gewesen sein, denn Tina ging nach seinem Versprechen entschlossen zum Rand und sprang in die Tiefe.
"Halten die da oben einen Kaffeeplausch, oder was?", fragte Manuel in diesem Moment den Rest der Clique, die alle Tina und Johannes erwartungsvoll beobachteten. "Was haben die beiden nur die ganze Zeit zu quatschen?" Plötzlich kam Bewegung auf den Sprungturm.
"Ich pack´s nicht! Die springt tatsächlich!"
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright MacMillan Inc., verwendet in Lizenz
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