Verguckt
"Was für ein süßes Girl!", schwärmte Andreas hingerissen. "Wenn ich mit Sonja nicht so glücklich wäre, würde ich sie glatt anbaggern. Wirklich ein leckeres Teilchen!" Er schnalzte genüsslich mit der Zunge. "Wir sollten viel öfters herkommen! Schauen kostet schließlich nichts!" Er lachte laut auf.
"Beschreib sie mir!", bat sein Kumpel Frank auf dem Badelaken neben ihm. Wie jeden Donnerstagnachmittag waren die beiden Freunde zum Schwimmen gegangen, wie jeden Donnerstag ohne Andreas` Freundin Sonja, die zur gleichen Zeit zu ihrem wöchentlichen Tanztraining ging. Sie tanzte nämlich während der Faschingssaison in einer Prinzengarde und musste den gesamten Herbst und Winter hart dafür trainieren. Zweimal wöchentlich. Und hatte weniger Zeit für ihren Herzallerliebsten, die dieser dann stets mit seinem Kumpel Frank verbrachte. Dienstags gingen sie zum Billard, donnerstags ins Hallenbad.
"Nun, mach schon!", drängte Frank ungeduldig, nachdem Andreas bisher keinerlei Anstalten machte, seiner Bitte nachzukommen.
"Also,", begann Andreas umständlich, "sie hat eine niedliche Figur, nicht so rappeldürr, sondern richtig gut, du weißt schon, was ich meine, mit den Rundungen an den richtigen Stellen." Er machte eine entsprechende Handbewegung und grinste anzüglich. "Wunderschöne, lange dunkle Haare und, und äh, blaue Augen!", beendete er seine Beschreibung.
"Idiot!", brummte Frank. "Die Augenfarbe kannst du doch von hier aus überhaupt nicht erkennen!" Was natürlich stimmte, denn Andreas hatte ihm ein Mädchen beschrieben, das auf der Liege-Terrasse am anderen Rand des Schwimmbeckens lag. Ungefähr 15 m Luftlinie.
"Okay, okay, hast natürlich recht, die Augenfarbe war geflunkert" gab Andreas zu. Aber der Rest war richtig. Du solltest wirklich mal einen Blick auf das Mäuschen riskieren!" Er stieß seinen Freund aufmunternd in die Seite. "Hey, jetzt schaut sie sogar zu uns rüber. Und lächelt! Wow! Die meint tatsächlich uns!", rief Andreas aufgeregt. "Guck halt mal!"
"Du weißt doch genau, dass ich ohne meine Brille nichts sehe!", knurrte Frank ärgerlich, der sein ungeliebtes Nasenfahrrad im hintersten Eck seiner Tasche versteckt und ihn den Garderobenschrank weggesperrt hatte. "Wie kann man nur so eitel sein?", wunderte sich Andreas. "Du hast doch wirklich eine Macke! In der Schule setzt du doch auch deine Brille auf!"
"Da geht es eben nun mal nicht anders!" Frank schämte sich wegen seiner Kurzsichtigkeit und lief, wo immer es möglich war, ohne Brille herum. Wodurch ihm natürlich so Einiges entging. Wie eben das hübsche Mädchen gegenüber. Oder in der Stadt, wenn er mit Andreas durch die Gegend zog und die Menschen um sich herum nur als wabernde Masse mitbekam. Ohne scharfe Konturen. Keine Gesichter, sondern helle Flecken. Weshalb er auch nie mitbekam, wenn ihn ein Mädchen freundlich und interessiert anlächelte. Oder er selbst in Fettnäpfe stolperte wie letztes Wochenende. Da hatte er mit einem komplett in Jeans gekleideten Mädchen geflirtet. Das sich beim Näherkommen als die Mutter eines Klassenkameraden entpuppt hatte. Megapeinlich!
"Schade, sie verschwindet!", bedauerte Andreas nun. Doch plötzlich kam ihm eine Idee. "Mensch, Frank, das ist deine Chance! Du musst ihr nachgehen! Vielleicht kommt ihr euch ja beim Fönen näher!" Andreas lachte bei dem Gedanken daran. "Komm, du alter Feigling! Ich werde hier die nächste Stunde auch ohne dich überleben!" Frank zögerte für einen kurzen Moment, gab dann aber nach. "Meinetwegen!", stimmte er mit nicht gerade überwältigender Begeisterung dem Vorschlag seines Freundes zu. "Aber du darfst mir nicht nachgehen!" "Würde ich doch nie tun!", grinste Andreas.
"Blauer Badeanzug!", waren die letzten Worte, die Frank von seinem Freund hörte, als er sich auf den Weg zur Eroberung der unbekannten Schönen machte.
Mist, war es nun die zweite oder die dritte Kabine im linken Gang gewesen, in die der blaue Badeanzug verschwunden war?
Frank ging unschlüssig vor den Türen auf und ab und verfluchte zum ersten Mal selbst seine blöde Eitelkeit. Gut, er würde sich eben mit dem Anziehen beeilen, und dann die beiden in Frage kommenden Kabinen beobachten. Flugs räumte er seinen Garderobenschrank aus, warf seine Jacke achtlos über den Arm und verschwand in die letzte noch freie Umkleidekabine. In seiner Hektik überhörte er dabei das leise Geräusch, das sein Fahrradschlüssel machte, als er aus der Jackentasche auf die rutschfesten Plastikmatten fiel, mit denen der feuchte Fliesenboden ausgelegt war.
In Windeseile zog er sich an, stopfte seine nassen Badesachen hastig in die Tasche und bezog am Ende des Ganges Position. Verdammt, etliche Kabinen waren mittlerweile schon leer, zum Glück jedoch noch keine der ersten. Frank wartete gespannt und kaute vor Nervosität auf seiner Lippe herum.
Jetzt ging die dritte Kabine auf. Heraus kam ein Mädchen mit einem lustigen Filzhut. Wie sollte er jetzt wissen, ob es die richtige war, wenn er ihre Haare nicht sehen konnte? Offensichtlich hatte sie nicht vor, zu fönen. Unschlüssig blickte Frank ihr nach, als sie um die Ecke bog. Nachgehen oder auf Kabine zwei warten? Er entschied sich für die zweite Möglichkeit und hatte das Gefühl, eine Ewigkeit warten zu müssen, obwohl es in Wirklichkeit vielleicht nur drei Minuten waren.
Da, endlich ging die Tür auf! Frank hielt gespannt den Atem an. Heraus kam eine Omi im langen Mantel und mit Kopftuch ums Gesicht! Verdammt! Es war also doch der Hut gewesen!
Frank sauste zum Gebäude hinaus und blickte sich suchend um. Niemand weit und breit. Pech gehabt! Enttäuscht trottete er zu seinem Fahrrad. Zielsicher, weil er wusste, das es das Erste in der dritten Reihe war. Als er wie gewohnt in seine rechte Jackentasche langte, griff er zu seiner Überraschung ins Leere. Sollte er seinen Fahrradschlüssel ausnahmsweise in die linke gesteckt haben? Negativ! Wo war nur der verdammte Schlüssel? Er musste ihn auf dem Weg ins Schwimmbad verloren haben. Oder im Hallenbad selbst. Na dann, fröhliches Suchen!
Er setzte seine Brille auf und legte die Strecke zum Eingang im Schneckentempo zurück, die Augen stets suchend auf den Boden vor ihm gerichtet. Kurz vor der Eingangstüre hörte er hastige Schritte hinter sich und wurde kurz darauf von einer grünen Jacke mit wehendem roten Schal überholt. Und einem schwarzen Filzhut! Das war das Mädchen, das ihm vorhin entwischt war! Sollte er tatsächlich eine zweite Chance erhalten? Aufgeregt verfrachtete Frank sein Nasenfahrrad wieder in das Etui und betrat das Gebäude. Aber er konnte das Mädchen nirgends entdecken. Wo war sie nur so schnell hin? Egal, wo, da sie den Gang mit den Umkleiden auf jeden Fall passieren musste, konnte er auch schon mit der Suche nach seinem Schlüssel beginnen. Frank ging in die Knie und tastete mit den Händen den Boden ab.
"Hast du eine Kontaktlinse verloren?", fragte plötzlich eine junge Stimme über ihm. Als er den Kopf hob, blickte er in das Gesicht, das zu dem schwarzen Stoffhut gehörte. Ein hübsches Gesicht, soweit er erkennen konnte. "Nein, meinen Fahrradschlüssel!", antwortete Frank und heftete seinen Blick krampfhaft auf den Boden, weil er ein heftiges Brennen im Gesicht spürte, das ihm signalisierte, dass er soeben die Farbe einer überreifen Tomate anzunehmen begann.
"Meinst du den hier?", fragte das Mädchen, ging direkt vor Frank in die Knie und hielt ihn seinen Fahrradschlüssel unter die Nase. "Danke!", stammelte Frank und schnappte sich den Schlüssel.
"Dass du ihn bisher nicht gesehen hast!" Verwundert schüttelte sie den Kopf. "Er lag doch direkt vor dir!" Frank schwieg. "Ist ja auch egal. Hauptsache, wir haben beide unsere Sachen wieder zurück! Ich hatte nämlich meine Handschuhe in der Ablage von meinem Garderobenschrank vergessen. Sie lagen zum Glück noch da. Kein Wunder, solche Prachtexemplare will keiner haben!" Sie lachte Frank fröhlich an und zeigte ihm ihre selbst gestrickten Handschuhe. Gelb-grün-orange gestreift. "Waren Wollreste!", setzte sie entschuldigend hinzu.
Einvernehmlich schlenderten sie beide zurück zum Fahrradkeller und holten ihre Drahtesel. "In welche Richtung musst du?", fragte das Mädchen Frank, nachdem sie ihre Räder bis an den Straßenrand geschoben hatten. Warum konnte e r sich nicht so ungezwungen mit einem Mädchen unterhalten, wie sie es ihm vormachte, fragte sich Frank im Stillen. "Ins Mühlenviertel, Sevenichstraße."
"Prima, das liegt auf meiner Strecke!", freute sich das Mädchen. "Da können wir zusammen fahren! Ich heiße übrigens Kathrin.und du?" So leicht ging das bei ihr! Frank beneidete Kathrin um ihre Unbekümmertheit, weil er selber so schüchtern war. "Frank."
"Okay, los geht´s!" Kathrin setzte sich in Bewegung und radelte los. Nach wenigen Metern blickte sie sich um und merkte, dass Frank noch immer an der gleichen Stelle stand. Sie wendete und kehrte zurück. "Worauf wartest du ?", erkundigte sie sich neugierig.
Jetzt hieß es Farbe bekennen! Frank atmete tief durch, langte in die Tasche, holte die Brille aus dem Etui und setzte sie auf. Ohne Brille war es für ihn im Straßenverkehr nämlich zu gefährlich. Das sah selbst Frank ein.
"Also deswegen", stellte Kathrin überrascht fest, "hast du deinen Schlüssel vorhin nicht gesehen!" Sie lachte. "Du scheinst ja genauso eitel zu sein wie ich! Und ein ähnlicher Schussel!"
Frank blickte sie verständnislos an. "Wieso bist du eitel?" Seine Neugier siegte über den Gentleman in ihm.
"Ich wollte auch nie eine Brille aufsetzen!", erklärte Kathrin. "Wo ich doch blind wie ein Maulwurf bin!" "Und?", fragte Frank und wunderte sich, bei einem blinden Maulwurf keine Brille auf der Nase zu sehen.
"Ich trage jetzt Kontaktlinsen!", antwortete Kathrin. "Solltest du vielleicht auch mal probieren! Komm, lass uns endlich fahren! Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch zum Kiermeier, bevor er seinen Laden zu macht." Sie grinste Frank spitzbübisch an. "Eine Nussecke ist ja wohl das Mindeste an Finderlohn für etwas so Wichtiges wie einen Fahrradschlüssel!" Lachte frech und radelte davon.
Ein Frank mit Schmetterlingen im Bauch hinterher.
Der sich fest vornahm, Kathrin für das Wochenende ins Kino einzuladen.
Und sich bei seinem Optiker möglichst bald nach Kontaktlinsen zu erkundigen.
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright MacMillan Inc., verwendet in Lizenz
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