Wasserfest

„Na los, mach schon!“, drängte Steffi ungeduldig und gab ihrer Freundin Britta einen aufmunternden Schubs. „Sie spielen gerade den neuesten Hit von den Peppermint Kings. Das ist doch Nicos Lieblingsgruppe und somit die ideale Gelegenheit für dich!“

Britta blickte sehnsüchtig auf die Tanzfläche, die man extra für das Schulfest auf dem Sportplatz aufgebaut hatte. Der beliebte Song hatte viele Tänzer auf das Podium gelockt, die nun die ausgelassene Stimmung und die wunderbare Atmosphäre des Abends genossen. Die Organisatoren aus der Elften hatten sich mächtig ins Zeug gelegt und neben einem riesigen Buffet voller verführerischer italienischer Leckerbissen bei der Dekoration eine romantische Kulisse geschaffen, indem sie zahlreiche Lichterketten und Lampions aufgehängt und die Holzgeländer mit bunten Girlanden aus Krepppapier umwickelt hatten. Britta seufzte. Wer bei diesem Anblick noch kein kribbeliges Gefühl bekam, konnte kein menschliches Wesen, sondern musste eine kalte Maschine sein.

„Erde an Britta, Erde an Britta, bitte melden!“ Steffi war Brittas verträumten Blick gefolgt und zwickte sie heftig in den Arm, um sie wieder in die Gegenwart zurückzuholen. „Aua, du tust mir weh!“, beschwerte sich Britta empört, worauf Steffi zufrieden lachte. „Das war ja auch der Sinn der Übung! Denkst du eigentlich noch an dein wichtiges Vorhaben für heute Abend? Du wolltest Nico anbaggern, schon vergessen?“ Britta machte ein unglückliches Gesicht und trat dabei unsicher von einem Fuß auf den anderen. „Ich glaube, ich trau mich nicht. Es sind so viele andere hübschen Mädchen da, da habe ich doch keine Chance bei ihm.“

„Wenn du dich nicht bewegst und hier nur schmachtend herumstehst, sicher nicht“, entgegnete Steffi ungerührt, „dann hat deine Konkurrenz freie Bahn und schnappt ihn dir garantiert weg!“ Als sie daraufhin Brittas erschrockenes Gesicht sah, wollte Steffi ihrer verunsicherten Freundin Mut machen. „Du siehst Klasse aus, Nico hat zur Zeit keine Freundin und steht auf dunkelhaarige Mädchen. Das weiß ich rein zufällig von meinem Bruder. Also, alles paletti!“ Steffis Bruder und Nico gingen in dieselbe Klasse, so dass Britta dank Steffi leicht an viele Informationen über ihren heimlichen Schwarm herankommen konnte.

Zur Feier des Tages hatte Steffi sich ausnahmsweise eine ganze Stunde Zeit genommen, um sich für das Highlight des Schuljahres, nämlich das alljährliche Sommerfest möglichst perfekt zu stylen. Sie trug zu ihren heißgeliebten Plateauschuhen und ihrer knackig engen schwarzen Lieblingsjeans ein gelbes bauchfreies T-Shirt, das gut zu ihren kastanienbraunen krausen Haaren passte. Die hatte sie zwar wie immer mühsam glatt gebürstet, heute aber ausnahmsweise offen gelassen und nicht zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte sogar einen apricotfarbenen Lippgloss aufgetragen, obwohl sie sich sonst gegen jede Schminkerei wehrte.

„Okay, auf in den Kampf!“, fasste sich Britta ein Herz, holte noch einmal tief Luft und machte sich auf den Weg zu Nicos Clique, die unmittelbar rechts von der Tanzfläche stand und interessiert das Geschehen beobachtete. Auf halbem Weg erstarrte sie plötzlich. O nein! Das durfte nicht wahr sein! Bitte, bitte, lass es nur eine Fata Morgana sein! Leider entpuppte sich das niederschmetternde Geschehen vor Brittas Augen als grausame Wirklichkeit, die ihre süßen Hoffnungen auf eine erfolgreiche Eroberung ihrer heimlichen Liebe mit einem Schlag zunichte machte.

Jennifer aus der Parallelklasse hatte Nico angesprochen und ihn auf die Tanzfläche geschleppt, wo sie nun eine heiße Show abzog. Jennifer war DIE Schönheit der Schule und im vergangenen Jahr nicht nur zur Miss Mittelstufe gewählt worden, sondern auch bei einer Modenschau des größten Damenbekleidungshauses der Stadt als Model aufgetreten. Seither war Jennifer noch eingebildeter und fühlte sich wie die kommende Claudia Schiffer.

Auch heute zog sie mit ihrem Aufsehen erregenden Outfit wieder alle Blicke auf sich. Sie sah schon toll aus, musste Britta ihr neidisch zugestehen. Jennifer trug ein feuerrotes hautenges minikurzes Paillettenkleid, das ärmellos geschnitten und vorne mit einem gewagt tiefen Ausschnitt versehen war. Zusammen mit den beängstigend hochhackigen Sandaletten betonte das Kleid die perfekte Figur seiner Trägerin und ließ sie atemberaubend sexy wirken. Kein Wunder, dass alle Jungen bei diesem Bild ein flaues Gefühl in der Magengegend bekamen und die Luft anhielten. Mit ihrer dramatischen Hochsteckfrisur, aus der gekonnt einzelne blonde Korkenzieherlocken hervorwippten, und ihrem schrillen, aber gekonnt aufgetragenen Make up, hatte Jennifer erfolgreich sämtliche weibliche Gegnerinnen im Rennen um den Titel des schönsten Mädchens am heutigen Abend aus dem Feld geschlagen.

Jetzt schmiegte sie sich eng an ihre neueste Eroberung, legte besitzergreifend ihre Hände um Nicos Hals und zog dabei seinen Kopf gerade so weit zu sich herunter, dass er gezwungenermaßen in ihren Ausschnitt schauen und ihre üppige Ausstattung bewundern musste. Als Jennifer ihn zu allem Übel auch noch auf den Mund küsste und Nico scheinbar auffressen wollte, konnte Britta den schmerzhaften Anblick nicht länger ertragen und sie kehrte völlig niedergeschlagen zu ihrer besten Freundin zurück. Da Steffi die Szene mitverfolgt hatte, erwartete sie Britta mit verständnisvoller Miene und nahm sie tröstend in die Arme. Britta war so enttäuscht und verzweifelt, dass sie sich nicht gegen ihre Tränen wehren konnte und sich schluchzend an Steffi klammerte, die ihr liebevoll über die Haare strich.

Mit einem Mal vermischten sich Brittas Tränen mit den ersten dicken Regentropfen. Entgegen der Hoffnungen der Besucher hatten die dunklen Wolken, die bereits während des gesamten Abends drohend über der Freiluftveranstaltung gehangen waren, kein Einsehen mit dem feiernden Schülervolk gehabt und entleerten sich nun in einem heftigen Platzregen. Der plötzliche Wolkenbruch löste ein regelrechtes Chaos aus.

Sämtliche Mädchen rannten kreischend Richtung Schulgebäude, um sich und vor allem ihre mühsam inszenierte Aufmachung vor der zerstörerischen Nässe in Sicherheit zu bringen. Die meisten der Jungen taten es ihnen nach, und nur wenige unter ihnen kümmerten sich um die Rettung der gefährdeten Dinge wie das kalte Buffet oder die hochempfindliche Musikanlage.

„Schau mal“, lachte Steffi belustigt, die trotz des prasselnden Regens bei Britta geblieben war, der die Nässe überhaupt nicht auszumachen schien, und deutete mit ihrer rechten Hand Richtung Tanzfläche. „Zum Schießen! Madame löst sich auf! Jetzt bräuchte man einen Fotoapparat!“ Sie prustete vor Lachen los und kriegte sich dabei nicht mehr ein, bis sie ein Schluckauf befiel und ihr schadenfrohes Gelächter in ein vergnügtes Glucksen verwandelte.

Als Britta in die angegebene Richtung blickte, stimmte sie in Steffis Lachen ein. Das war ja wirklich ein Bild für die Götter! Jennifer hatte ebenfalls die Flucht ergreifen wollen, war allerdings bei ihrem Versuch mit ihren unpraktischen Stöckelschuhen auf dem glatten Parkett ausgerutscht und hingefallen. Bis sie sich anschließend wieder mühsam aufrappeln konnte, hatte der Regen genügend Zeit gehabt, die vormalige Schönheit in ein entstelltes Monster zu verwandeln. Ihr üppiges Make up lief ihr in hässlichen Streifen über das Gesicht und ihre kunstvolle Frisur war in sich zusammengefallen und klebte nun unvorteilhaft an ihrem Kopf, nachdem sich bei ihrem Sturz einige Haarnadeln gelöst und sich der Haarlack vor der nassen Übermacht geschlagen geben musste. Jennifer schien sich mit Nico zu streiten, denn mit verkniffenem Gesichtsausdruck redete sie heftig auf ihn ein. Nico blieb jedoch ungerührt und wandte sich stattdessen seinen Freunden zu, um ihnen beim Abbau der Anlage zu helfen. Jennifer stampfte ein letztes Mal zornig mit dem Fuß auf und stapfte schließlich wütend davon.

„Komm, wir helfen auch mit!“ Britta stürzte Richtung Tanzfläche davon und ließ eine verblüffte Steffi zurück, über deren Gesicht kurz darauf ein bedeutungsvolles Lächeln huschte.

„Wohin?“ Britta hatte am anderen Ende des Verstärkers angepackt und blickte Nico fragend an. „Am besten zum Vordach bei der Turnhalle, das ist am nächsten“, entgegnete Nico, und gemeinsam schleppten sie das Gerät und anschließend noch eine Box ins rettende Trockene. „Hoffentlich haben die Geräte nichts abgekriegt“, sorgte sich Britta, als sie neben Nico nach vollbrachter Arbeit darauf wartete, dass der Regen nachließ.

„Dank deiner Hilfe nicht, das war echt Klasse!“, lobte Nico seine unerwartete Helferin und musterte interessiert das unverkrampfte Mädchen neben sich. Vermutlich war sie sich gar nicht darüber im Klaren, wie süß sie mit ihrem völlig durchnässten T-Shirt und ihrem kringeligen Lockenkopf aussah. Ihr Anblick beschleunigte plötzlich seinen Herzschlag.

Was schaut der denn so komisch? Da Britta die veränderte Situation sowie die von einen auf den anderen Augenblick entstandene kribbelnde Spannung bemerkt hatte, fühlte sie sich nun etwas unbehaglich und suchte nach einem neuen Gesprächsthema. „Hoffentlich hört der Regen bald auf“, brachte sie endlich mit weichen Knien hervor.

„Meinetwegen könnten wir hier noch stundenlang warten“, lächelte Nico sie vielsagend an, nahm Brittas Hand und zog sie so weit unter das Vordach, dass sie von den anderen am Schulgebäude nicht mehr gesehen werden konnten...

© 2000 Anja Gerstberger, Bild: Copyright MacMillan Inc., verwendet in Lizenz