Eigentlich stehe ich ja auf Latin Lover, aber...

Wie jeder von uns hatte auch ich als Mädchen von Anfang an ganz konkrete Vorstellungen davon, wie mein Märchenprinz auszusehen hätte. Ja, nur ein bestimmer Typ würde es schaffen, mein Herz zu erobern, so dass wir bis ans Ende unserer Tage, blablabla...

In Wirklichkeit kam dann natürlich alles ganz anders.

Aber lasst mich euch zunächst erzählen, wie ich mir meinen künftigen Partner in meiner Fantasie ausmalte.

Also, rein optisch ließ sich mein Traumboy in die Rubrik Latin Lover einordnen: dunkle Locken, bronzefarbener Teint, stattliche Größe mit breiten Schultern, muskulöser, aber nicht überzüchteter Körper, ebenmäßig blitzende Zähne, schwarzbraune Glutaugen hinter unverschämt dichten Wimpern. Irgendwie eine Mischung zwischen Antonio Banderas, Eros Ramazotti und Mark Philipoussis. Seufz.

Selbstverständlich ohne das entsprechende Machogehabe. Nix Casanova, nee nee!

Nein, mein Wunschexemplar müsste auch vom Charakter her etwas ganz Besonderes sein, wollte er mich kostbares Wesen (schon mal was von verzerrter Selbstwahrnehmung gehört...?) verdienen.

Treu, beschützend, klug, humorvoll, großzügig, zuverlässig, charmant, einfühlsam, ehrlich, sportlich, hilfsbereit, aufgeschlossen, zärtlich, mutig, unternehmungslustig, selbstbewusst, musikalisch, redegewandt, allwissend, souveräner Beherrscher sämtlicher Lebenslagen, mir in ewiger Anbetung zu Füßen liegend. Kurzum, eben alles, was die Palette an anspruchsvollen Eigenschaften so hergibt. Ziemlich unbescheiden. Ach ja, außerdem sollte er im Idealfall ein bis zwei Jahre älter sein und keinen fremden Dialekt wie Berlinerisch, Plattdütsch, Schwäbisch oder Kölsch haben...

Weltfremd und naiv wie ich damals war, merkte ich erst im Laufe der Zeit, dass es diesen Mister Perfekt meiner Gedankenwelt in der Realität für mich nicht geben würde. Und hätte ich an meinen wahnwitzigen Ansprüchen festgehalten, tja, dann würde ich wohl noch heute und vermutlich auch bis an mein Lebensende da sitzen und vergeblich warten...

So hat mein Leben dann von ganz alleine meine verrückten Vorstellungen zurecht gerückt. Und zwar Schritt für Schritt bis hin zu meinem jetzigen Partner, der mit dem alten Bild nur noch in wenigen Punkten übereinstimmt. Muss ich erwähnen, dass diese Gemeinsamkeiten ausschließlich den Charakter betreffen?

Doch der Reihe nach.

Meine erste Flamme entsprach wenigstens noch vom Aussehen her meinem Traumgebilde. Na ja, zumindest, wenn man die Begriffe stattlich und muskulös großzügig auslegt. Dafür haute es mit dem Charakter nicht so hin. Zwar kein Herzensbrecher, aber ein megaschüchterner Softie und Langweiler.

Den ich daraufhin nach wenigen Tagen in die Wüste schickte, weil da bereits seine Ablösung, eine beliebte Stimmungskanone, um meine Gunst buhlte. Ich erhörte sein Flehen, obwohl er klein, blauäugig und blond war. Leider ein als nordischer Typ getarnter blonder Macho, der mich seinerseits wegen einer unscheinbaren, uninteressanten Tussi sitzen ließ. Ihm folgten weitere Blond- und Hell-bis-Mittel-Braun-Schöpfe, die die restlichen von mir gewünschten Eigenschaften besaßen. Leider alle zusammen und keiner auf einmal. Besonders witzig - weniger freundliche Mitmenschen würden witzig durch Adjektive wie bescheuert, peinlich oder unzurechnungsfähig ersetzen - war die Tatsache, dass ich selbst nach dem fünften hellhäutigen, glatthaarigen Blauauge nach wie vor behauptete, ich würde auf Latin Lover stehen. Ich war wohl die Einzige, die nicht merkte, wie sehr ich mir damit widersprach...

Und heute?

Heute bin ich mit meinem Traummann zusammen. Nicht der Traummann aus meinen romantisch verklärten Jungmädchentagen, sondern der Traummann, wie ihn mir meine persönlichen Erfahrungen aus meinem Liebesleben gelehrt haben. Denn das Leben selber öffnet dir die Augen für die wesentlichen Dinge. Und die Liebe wiederum hat ihre ganz eigenen Regeln.

So war es nicht das Äußere, in das ich mich zuerst verliebt habe, sondern seine überaus einfühlsamen Worte, die bis zu meiner Seele vorgedrungen sind, sowie sein sympathisches Lachen. Danach kamen natürlich die passenden Wesenszüge. Mit Lücken und schwarzen Schafen zwar, aber in den wirklich wichtigen Punkten ideal. Und nur darauf kommt es an. Denn die Hülle ist austauschbar und veränderlich, nicht jedoch der Kern.

Was ich dir mit meiner Geschichte sagen will?

Pass erstens auf, dass du vor lauter Träumen und Starren auf Mister Wunderschön oder Mademoiselle Superhübsch nicht den Blick für die scheinbar kleinen, in Wahrheit jedoch bedeutenden Dinge verlierst!

Hör zweitens auf deine innere Stimme, denn sie bügelt so manchen unserer Denkfehler aus!

Last but not least: Gestehe dir ehrlich ein, dass du deinerseits wohl kaum all diejenigen Erwartungen erfüllen kannst, die du an deinen Traumpartner stellst!

Werde nicht ungeduldig, denn die Liebe wird dich genau dann erwischen, wenn du am wenigsten damit rechnest...


© 2000 Anja Gerstberger, Bild: Copyright by MacMillan Inc., verwendet in Lizenz