Tausendmal berührt...
oder wenn aus Freundschaft Liebe wird
Tim und Carola, beide 15 Jahre alt, saßen schon zusammen im
berühmten Sandkasten, gingen vier Jahre lang gemeinsam in die
Grundschule und danach zwei Jahre in die gleiche Klasse des
Gymnasiums, bis sich - zumindest schulisch - ihre Wege trennten,
weil nämlich Carola als zweite Fremdsprache Latein, Tim hingegen
Französisch gewählt hatte. Dennoch sind sie nach wie vor die
dicksten Freunde und verbringen viel Zeit miteinander. Weil sie
eben nur drei Häuser voneinander entfernt wohnen und ihre
anderen Freunde Achim und Marion auch nicht rund um die Uhr zur
Verfügung stehen können.
Sie kennen sich in- und auswendig und haben sich gegenseitig
all ihre Probleme erzählt. Tim hat Carolas sämtliche
unglückliche Liebschaften ebenso mitbekommen wie ihren ständigen
Ärger mit ihrer großen Schwester. Umgekehrt weiß Carola über
Tims Komplexe wegen seiner mageren Statur Bescheid und versorgt
ihn mit Tipps für seinen unentwegten Kampf gegen seine
unermüdlich sprießenden Pickel.
Tim und Carola verbindet eine tolle Freundschaft.
Jedenfalls bisher.
Denn nach ihrem letzten gemeinsamen Kinobesuch fragte sich Tim,
warum er plötz-lich so ein komisches Kribbeln in der Magengegend
verspürte und sein Herz so furcht-bar heftig klopfte, als sich
Carola von ihm mit einer Umarmung an der Haustür
verabschiedete...
Je länger Tim darüber nachdachte, um so stärker drängte sich
ihm der Verdacht auf, dass er sich in seine "alte" Freundin
Carola verliebt hatte. Was die Angelegenheit nicht gerade
einfacher machen würde...
Was Tim da erlebt, kommt gar nicht mal so selten vor. In
langjährigen Freund-schaf-ten hegt plötzlich der eine der beiden
Partner nicht mehr nur freundschaftliche Gefüh-le für den
anderen, sondern wesentlich ernsthaftere...
Weil sich das Mädchen mit einem Schlag in ihren Kumpel
verknallt bzw. der Junge mit einem Male bemerkt, mit welch
tollem Mädchen er da eigentlich befreundet ist.
Aus Freundschaft wird plötzlich Liebe.
Laufen derartige Beziehungen automatisch besser?
Oder gibt es leichter Schwierigkeiten, weil man sich zu gut
kennt?
Fragen, über die es sich ausführlicher nachzudenken lohnt...
Hatte Harry doch Recht?
Wer kennt nicht die Auseinandersetzung zwischen Harry und Sally
aus dem gleich-namigen Kinoerfolg? Als sich die beiden darüber
streiten, ob Männer und Frauen zu echter Freundschaft fähig
sind? Sally meint ja, Harry dagegen nein. Er behaup-tet, früher
oder später käme einem gemischten Freundespaar immer der Sex
dazwi-schen. Und der weitere Verlauf des Films gibt ihm
schließlich ja auch Recht.
Kann es wirklich keine tiefe und dauerhafte Freundschaft
zwischen Jungen und Mädchen geben?
Und plötzlich ist alles anders...
Wie hat Klaus Lage dieses Phänomen so treffend besungen!
"Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert. Und dann
hat es Zoom gemacht..."
Erklärungen dafür, warum man sich plötzlich in den besten
Freund des anderen Geschlechts verknallt, gibt es so wenig wie
für die Liebe überhaupt. Liebe ist eben eine gewaltige Macht,
die mit einer irren Kraft über ihre ahnungslosen Opfer herfällt
und sie zu ihren willenlosen Marionetten macht. Die nicht mehr
wissen, was sie tun. Die nicht mehr ganz bei Verstand sind. Die
eben verliebt sind. Mit allem Drum und Dran. Und dieses hilflose
Ausgeliefertsein ist ja auch irgendwie das Schöne an der Liebe.
Die Kennzeichen, die dir verraten, dass das nette Mädchen bzw.
der tolle Junge neben dir plötzlich kein geschlechtsloses
Neutrum mehr ist, sondern eine überaus interessante und
verführerische Ausgabe des anderen Geschlechts, kannst du leicht
erkennen. Check ab, ob sie bei dir zutreffen!
Du trägst auf einmal die rosarote Brille der Verliebten, die
deine Wahrnehmung verändert. SIE trägt nicht nur einen witzigen
Pferdeschwanz, sondern hat tolle, lange Haare, die du gerne
offen sehen und berühren möchtest. Umgekehrt hat ER nicht eine
sportliche Figur, sondern einen faszinierenden Körper, den du
gerne näher fühlen möchtest.
Ehemals harmlose Berührungen wie ein Bussi auf die Wange oder
eine kurze Umarmung, lassen dein Blut in Wallung geraten, dir
Ameisenarmeen über den Körper laufen oder treiben deinen
Pulsschlag in Schwindel erregende Höhen. Dein Körper scheint
plötzlich verrückt zu spielen und verwirrt dich mit bis dato
unbekannten Reaktionen.
Der unbefangene Umgang miteinander ist plötzlich weg. Vor
jeder Berührung fragst du dich, ob ER/SIE möglicherweise falsche
Schlüsse daraus ziehen könnte. Vor jeder Äußerung, ob ER/SIE
vielleicht etwas Verdächtiges "heraus"-hören könn-te. Du wirst
dich auf diese Weise dermaßen verkrampfen und verändern, dass
ER/SIE hundertprozentig mitkriegen wird, dass da was nicht
stimmt!
Du entdeckst eine neue Scham an dir vor IHM/IHR. Plötzlich ist
es dir peinlich, zu erzählen, dass du schlecht drauf bist, weil
du deine Tage hast und du unter Unter-leibsschmerzen leidest.
Plötzlich ist es dir unangenehm, von IHR beim raschen Umziehen
in der Unterhose dazustehen oder im Freizeitlook mit fleckiger
Hose und ausgeleiertem T-Shirt "erwischt" zu werden.
Das deutlichste Signal überhaupt: Du erzählst IHM/IHR
plötzlich nicht mehr alles, was dich bewegt. Nämlich dass du
dich bis über beide Ohren in SIE/IHN verknallt hast...
Chancen
Haben aus einstigen Freundschaften entstandene Beziehungen
bessere Chancen? Aus folgenden Gründen haben sich durchaus
bessere "Startbedingungen":
Maskeraden entfallen
Umständliche Aufbrezelaktionen und gekünstelte Rollenspiele
bleiben euch erspart. Ihr habt (beinahe) nichts mehr
voreinander zu verbergen. Weder optisch, noch was euer Wesen
betrifft.
Wer den anderen ungeschminkt, mit Lockenwicklern, verheult
oder nach dem ge-mein-samen Pizza essen mit Spinat zwischen
den Zähnen gesehen hat, hat dessen mögliches
Katastrophen-Äußeres erlebt und ist daher vor unliebsamen
Überraschun-gen gefeit. Und kann sich umgekehrt über ein
hübsches Zurechtmachen ihret- bzw. seinetwegen noch so richtig
freuen.
Ihr braucht euch auch keine beeindruckende Möchtegernhelden
und strahlende Sie-gertypen vorzuspielen, eine lässige
Coolness an den Tag zu legen oder ständig be-wei-sen, wie toll
ihr denn seid. Ihr habt den anderen bereits mit Schwächen
erlebt und könnt daher auf derartige Rollenspielchen
verzichten. Die nur anstrengend sind und sowieso auffliegen
werden.
Klare Botschaften
Typische Missverständnisse à la "Wie soll ich ahnen, dass
du..." bzw. "Ich habe geglaubt/gedacht, du..." werden bei euch
viel seltener auftreten als bei anderen Paaren. Vielleicht
sogar überhaupt nicht. Ihr habt nämlich reichlich Erfahrung
damit, die Blicke und Gesten des anderen oder die "heimlichen"
Botschaften zwischen den Zeilen zu deuten. Eure Antennen
registrieren sensibel jede noch so winzige Verän-derung. Ich
könnt euch so leicht nichts vormachen. Was einen dicken
Pluspunkt für eure Beziehung bedeutet, da Probleme nicht unter
den Teppich gekehrt werden können.
Schwierige Auskundungsphase fällt flach
Wie weit kann ich bei ihr gehen? Wie meint er das jetzt?
Steht sie auf diese Musik?
Mag er geschminkte Mädchen? Ob sie wohl mit ins
Fußballstadion geht? Komme ich mit seiner Familie klar? Kann
ich ihr eine anstrengende Radtour zumuten?
Solche und ähnliche Fragen, die andere erst mühsam
beantworten müssen, stellen sich euch erst gar nicht. Weil ihr
die Antworten nämlich schon kennt. Ihr steigt prak-tisch
gleich auf der zweiten Stufe der Liebesleiter ein und erspart
euch das umständ-liche erste Beschnuppern, um dann vielleicht
festzustellen, dass sich die zweite Stufe doch nicht lohnt und
ihr wieder einen Fehlversuch hingelegt habt. Nicht bei euch.
Denn ihr wisst sehr wohl, worauf ihr euch eingelassen habt.
Probleme
Einseitig
Ich bin bisher immer von dem Idealfall ausgegangen. Bei dem
sich die Partner einig sind und sich beide ineinander
verlieben. Wo Amors Pfeil zweimal ins Schwarze getroffen hat
und euch auf Wolke Sieben schweben lässt. Leider dürfte die
andere Möglichkeit, dass die plötzliche Verliebtheit unter
alten Freunden nämlich eine ein-seitige Sache ist, die
häufiger vorkommende Variante sein. Sie liebt ihn, aber er
nicht sie. Ihn hat es erwischt, doch sie lässt es kalt. Du
offenbarst dem anderen deine neu-en Gefühle, aber er/sie
erwidert sie nicht. Schade, aber du wirst die für dich bittere
Wahrheit dann akzeptieren müssen, auch wenn du im ersten
Moment vielleicht sehr enttäuscht und traurig bist. Aber
schmerzhafte Ehrlichkeit des anderen ist immer noch besser als
ein zweideutiges Ausweichen, nur um dem anderen nicht weh zu
tun, oder? Die größte Kunst besteht nun darin, die
Freundschaft erfolgreich weiterzuführen. Was nach einer
einseitigen Liebeserklärung bedauerlicherweise nur in den
seltensten Fällen gelingt.
Gefahr des Intimitäts-Syndroms
Bei langjährigen Paaren gibt es ein Phänomen, das immer
wieder zu beobachten ist und die Liebe ernsthaft gefährden
kann: Das sogenannte Intimitäts-Syndrom. Was bedeutet, dass
die Partner keine Geheimnisse mehr voreinander haben und alles
miteinander teilen. Wirklich alles. Schlimmstenfalls hockt der
eine auf dem Klo, während der andere seine Zähne putzt. Oder
sie zupft beim gemeinsamen Video schauen ihre Augenbrauen und
schneidet ihre Zehennägel. Oder er popelt ungeniert in ih-rer
Gegenwart in der Nase oder lässt einen hemmungslosen Rülpser
los. Diese Bei-spiele sind natürlich übertrieben, aber ich
glaube, du hast kapiert, was ich damit mei-ne, oder? Der Junge
findet sein Mädchen zwar süß, möchte aber nicht unbedingt
sämtliche Etappen (Gurkenmaske, Zehenspreizer, Papillotenkopf,
Beine rasieren...) auf ihrem Weg zur Schönheit hautnah
miterleben. Umgekehrt macht der Anblick seiner verzerrten
Fratze beim harten Fitnesstraining seine faszinierende Muskeln
nicht erotischer und sein gedankenverlorenes Herumpulen an den
Zähnen sein Lächeln nicht anziehender. Denkt stets daran:
Kleine Geheimnisse erhalten das Prickeln. Da ihr euch schon so
gut kennt, müsst ich euch besonders gut vor dem
Intimitäts-Syndrom hüten!
Liebe kaputt, Freundschaft kaputt
Liebe ist was Tolles. Das gigantischste Gefühl der Welt. Der
Himmel auf Erden sozu-sagen. Jedenfalls, solange sie hält.
Aber wehe, die Liebe zerbricht eines Tages! Dann ist der
Katzenjammer groß und wir durchschreiten ein endlos lang
erscheinen-des Jammertal der Tränen und des Herzeleids. Bis
wir wieder zur Normalität zurück-finden und für eine neue
Liebe offen sind. Der Liebesmüll ist gründlich entsorgt. Bei
einer zerbrochenen Liebe, die sich aus einer ehemaligen
Freundschaft entwickelt hat, klappt es mit dem
Reinigungsprozess nicht so ohne Weiteres. Man kann nicht nach
einer gescheiterten Beziehung einfach so wieder zur
Tagesordnung übergehen und mit der Freundschaft nun da weiter
machen, wo man vor der Liebe aufgehört hatte. Da ist
inzwischen doch zu viel passiert.
Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich an die alte
Freundschaft wieder anknüp-fen lässt, so ziemlich gegen Null
gehend. Kann sein, dass die Freundschaft noch eine Weile vor
sich hin dümpelt, bevor sie endgültig versiegt. Aber
vermutlich ist sie gleich passé. Schade eigentlich.
Ihr habt gesehen, dass eine Freundschafts-Liebe zwar gute
Ausgangsbedingungen hat, aber auch ihre Tücken. So kompliziert
wie jede Liebe eben.
Lasst uns trotzdem dem Tim von oben die Daumen drücken...
Lass uns Freunde bleiben...
Wie oft hört man diesen Spruch am Ende einer ehemals
glücklichen Beziehung!
Der Gehende bietet dem Verlassenen gönnerhaft seine
Freundschaft an. Damit der unglückliche Tropf weniger leiden
muss. Aber in Wirklichkeit noch mehr leidet. Ich persönlich
glaube nicht, dass die Freundschaft nach einer gescheiterten
Beziehung bestehen bleiben kann. Irgendwo ist da ein Riss, der
sich unaufhaltsam seinen Weg weiter bahnen wird. Bis die
Freundschaft schließlich völlig entzweit ist...
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