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Faszination Vorviertelstunde
- oder der Reiz des Countdowns vor dem 8-Uhr-Gong.
Vorviertelstunde.
Welch scheußliches Wort für eine so interessante und
kurzweilige Zeitspanne!
Die letzten Minuten vor dem Läuten.
Egal, ob Viertel vor, nach oder Punkt 8 Uhr.
Keine andere Phase des Schulvormittags kann sie an Spannung,
Überraschungen und Informationsfülle überbieten.
Auch nicht die Pause.
Das ist wie mit der Zeitung, deren Nachrichten man tags zuvor
im Fernsehen schon gesehen hat.
Hoffnungslos veraltet, längst keine Neuigkeit mehr.
Im Gegensatz zum frischen, unschuldigen Morgen...
Denn da werden Augen, Ohren und Nerven die tollsten Dinge
geboten!
Du glaubst mir nicht?
Sprechen wir uns nochmal, nachdem du folgende Liste gelesen
hast...
Die Vorviertelstunde hat einen unglaublichen
Unterhaltungswert, weil...
... übermüdete Mitschüler, die wie aus der Tube gedrückt in
ihren Bänken hängen und nur mit größter Mühe (wie war das mit
den Streichhölzern?) ihre Augen offen halten können, immer
wieder ein erheiterndes Bild abgeben. Das geradezu danach
verlangt, mit dem Fotoapparat festgehalten und bei nächster sich
bietender Gelegenheit (Schülerzeitung...) einem breiten Publikum
zugänglich gemacht werden sollte...
... die Spannung in den klasseninternen Wettbüros ins
Unerträgliche steigt: Mathe-Ex, ja oder nein? Schafft es Lehrer
Soundso heute mal, ohne die obligatorischen Wäscheklammern an
den Hosenbeinen, die ihn als passionierten Radfahrer ausweisen,
im Klassenzimmer zu erscheinen? Trägt Frau B. heute ihre weiße,
rote, blaue oder grüne Brille?
... geschulte Nasen ihre Kameraden mit der Fähigkeit
faszinieren, das unmittelbar bevorstehende Ankunft der
Klassen-Beauty anzukündigen, bevor deren Stimme über die Flure
schallt oder sie in der Tür erscheint. Getreu dem Motto: Man
hört sie nicht, man sieht sie nicht, aber man riecht sie!
... Schüler A., der jeden Tag auf den allerletzten Drücker
kommt und unter dem gestrengen Blick des seit 15 Minuten
vorbildlich am Pult sitzenden Lehrkörpers quasi mit dem Gong
einläuft, einfach eine tolle Show bietet: quietschende Schuhe,
beängstigende Schräglage wegen seines Affenzahns, fliegende
Objekte (Taschen, Jacke...) und ein wahlweise mit Zahnpasta-
(sehr spät dran) oder Marmeladeflecken (verdammt spät dran) im
Gesicht. An Glückstagen erfreut er mit unvollständigem (keine
Socken, kein Gürtel), vogelwilden (ein gelber und ein grüner
Socken) oder Verlegenheits-Outfit (Pulli der Schwester, Schuhe
des Vaters...).
... der tägliche Abschreib-Marathon für knapp 30 Schüler und
mindestens drei verschiedene Fächer eine ungeheure Organisation
erfordert, wenn alle zu ihrem Recht kommen wollen, aber in der
Regel in ein einziges Chaos ausartet. Womit wir wieder bei dem
netten Anblick wären...
... der Jahrmarkt der Eitelkeiten und der Mini-Laufsteg in der
Klasse mit schöner Regelmäßigkeit ebenso unterhaltsame
(gefärbte, radikal gestutzte Haare, grelle Outfits und Frisuren)
wie atemberaubende Auftritte (Bauchnabelpiercings, bedrohliche
Absatzhöhen, gewagte Einblicke usw.) bietet und damit viel
Leckeres für die Optik. Und natürlich jede Menge Gesprächsstoff
zum Ablästern...
... aufregende News nirgends heißer gehandelt werden: Hast du
schon gehört, dass sich X und Y getrennt haben/X und Y jetzt ein
Paar sind/X ihren Y mit Z betrogen hat? Hast du den geilen
Porsche von Frau M. gesehen? Weißt du schon, dass...? Du wirst
nicht glauben, was ich gesehen/gehört/erzählt bekommen habe...!
... es Spaß macht, Mitschüler K. dabei zu beobachten, welches
Versteck er sich heute für seine Spicker ausgedacht hat.
... tiefschürfende Gespräche über die Talkshows und Soapfolgen
des Vortages das anstrengende vormittägliche Schülerleben
einigermaßen erträglich machen. Ebenso wie der pubertätsmäßige
Erfahrungsaustausch über Dates, Pickelcremes, Trends und
ähnliche Wichtigkeiten.
... hier das spannende Geschäftsleben brodelt: Tauschgeschäfte
(Pausenbrote, CDs, Hausaufgaben...), Kontakte knüpfen (ein
bisschen Kuppeln muss sein...), Termine festlegen (Dates, Feten
etc.), Meetings vorbereiten (Welche Musik, Fressalien,
Örtlichkeiten?), Weiterbildung betreiben (nachmittägliche
Girlie-Beauty-Aktionen durchziehen), Personalgespräche führen
(Nachhilfe organisieren), Kündigungen entgegenwirken (den
Eintrag noch mal kurz angucken, sich die Vokabeln abfragen
lassen usw.), beim Chef vorsprechen (Lehrer um
Unterrichtsbefreiung wegen unvermeidlichen Arztbesuches bitten)
und, und, und...
... die letzten Minuten in relativer Freiheit im Vergleich zu
dem, was nach ihnen kommt, einfach noch mal so richtig gut tun.
So wie die letzte Tafel Schokolade vor der Diät...
... das Wiedersehen der Freunde/Clique eine tolle Sache ist.
Hat fast ein wenig was von Familienleben...
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright
Corel Gallery Magic, Corel Draw und Macmillan Inc. verwendet
in Lizenz
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