Was Zeugnisbemerkungen wirklich sagen
Betragen/Verhalten
Mündliche Mitarbeit
Schriftliche Arbeitsweise
Häusliches Arbeiten
Sonstiges
Mit Zeugnissen ist das so ne Sache.
Jedermann nimmt sie furchtbar wichtig, aber nicht jedermann
weiß auch, was tatsächlich in ihnen drin steht.
Mit den Noten geht das ja noch einigermaßen. Eine 4 ist eine 4
ist eine 4.
Stimmt auch nicht ganz. Eine 4 kann eine 3, 52 oder eine 4, 48
sein. Im ersten Fall wirst du die 4 wohl wortreich erklären und
beschönigen, um nicht zu sagen entschuldigen. Im zweiten Fall
wirst du dagegen wohlweislich den Mantel des Schweigens darüber
breiten.
Bei den so genannten Zeugnisbemerkungen jedoch schauen viele in
die Röhre.
Was will der Lehrer mit seinen ebenso viel- wie nichtssagenden
Bemerkungen eigentlich sagen? Wie muss ich seinen "Spruch" über
mich, meine Arbeitsweise, mein Verhalten deuten?
Die Pauker scheinen da eine eigene Sprache mit seltsamen
Bezeichnungen ("impulsive Schülerin" oder "positives
Sozialverhalten") zu verwenden, die außer ihnen selbst kein
Mensch versteht.
Daher wollen wir mit diesem Beitrag ein wenig Licht ins
Zeugnisbemerkungen-Dunkel bringen.
Im folgenden findest du eine Auflistung häufig verwendeter
Formulierungen mit veranschaulichender Erläuterung in "normalem"
Deutsch.
Achtung! Weiterlesen auf eigene Gefahr!
Beschwer dich hinterher bitte nicht, dass du lieber unwissend
geblieben wärest, als die nackte Wahrheit zu erfahren!
Typische Zeugnisbemerkungen und ihre wahre
Botschaft:
Betragen/Verhalten
"Alexander reagierte gegenüber seinen Mitschülern häufig sehr
impulsiv."
Alexander kann nicht einstecken und hat keinerlei
Selbstbeherrschung. Wenn ihm etwas nicht passt, beschimpft bzw.
verspottet er die anderen oder geht mit Fäusten auf sie los.
Sein Drang, immer edn Chef spielen oder im Mittelpunkt stehen zu
wollen, ist eigentlich ein Zeichen von seinen
Minderwertigkeitsgefühlen.
"Bettina gab sich den Mitschülern gegenüber umgänglich und
zuvorkommend."
Bettina hat den Wortführern der Klasse niemals widersprochen
und ständig versucht, sich bei den anderen einzuschmeicheln.
"Christian fiel gelegentlich durch unagepasstes Verhalten auf."
Christian hat seine Mitschüler schikaniert, den Unterricht
gestört und die Lehrer geärgert.
"Denise legte ein gutes Sozialverhalten an den Tag."
Denise hat sich nie durchsetzten können, sondern sich vom Rest
der Bande nach Strich und Faden ausnutzen lassen. Von ihrem
Zeichenblock bekam sie ein Blatt, den Rest die Schmarotzer,
ebenso erging es ihr mit ihren anderen Schulsachen und
pflichtbewusst besorgten Materialien. Außerdem übernahm sie
sämtliche unbeliebten Dienste und Sonderaufgaben.
"Erics schulisches Verhalten machte Ordnungsmaßnahmen
erforderlich."
Eric hat randaliert, gestört, geklaut, geprügelt, gelogen,
geärgert, gequält, geschwänzt usw., so dass seine Schülerakte
von Mitteilungen an die Eltern und Verweisformularen überquillt.
"Franziska ist eine ruhige und ausgeglichen Schülerin, die ein
lobenswertes Betragen an den Tag legte."
Franziska ist ein dermaßen unscheinbares und langweiliges
Mädchen, dass nicht mal dem Lehrer etwas Besonderes zu ihr
einfällt. Dafür gibt´s dann statt Lob oder Tadel eben auch eine
entsprechend nichtssagende Bemerkung.
"Gerald ist ein kontaktfreudiger und aufgeweckter Schüler, der
bei seinen Mitschülern sehr beliebt ist."
Wenn Gerald im Unterricht nicht die ganze Zeit schwätzt, SMSs
verschickt oder Briefchen schreibt, unterhält er die Klasse
durch Zwischenrufe, lustige Bemerkungen, Grimassenschneiden,
Ablenkungsmanöver oder Lehrerstreiche.
"Heike ist eine etwas bequeme Schülerin, die phasenweise
verspielt und geistig abwesend schien."
Heike ist extrem faul, meldet sich nie und hält sich nur
dadurch wach, dass sie ihre Hefte mit Bildchen und Mustern
verziert oder ihre Fingernägel pflegt. Wird Heike aufgerufen,
weiß sie nicht, wo man gerade ist, wie die Frage geheißen hat,
geschwiege denn die richtige Antwort.
"Ingo gefällt besonders durch seine kameradschaftliche Art und
versteht es, sich veränderten Situationen schnell anzupassen."
Ingo beteiligt sich gerne an Schülerstreichen und Streiks,
nimmt den Schwänzern durch seine Begleitung die Einsamkeit,
klaut dem Lehrer den Schulaufgabenentwurf aus der Tasche,
organisiert an den Theaterabenden seiner Eltern wilde Feten und
ist längst aus dem Klassenzimmer gestürzt, bevor die
Hitzefrei-Durchsage überhaupt zu Ende gesprochen ist.
Mündliche Mitarbeit
"Judith zeigt Aufgeschlossenheit und Begeisterung für neue
Lerninhalte."
Judith zieht bei jedem neuen Thema eine nervige, lautstarke
"Mann-ist-ja-voll-cool!"-Show ab, arebitet dann aber genau 5
Minuten konzentriert mit, bevor sie bereits wieder die Lust
daran verliert.
"Karsten arbeitet mündlich nur äußerst behutsam mit."
Karsten kriegt weder den Finger hoch, noch den Mund auf.
"Lisa zeigt Aufmerksamkeit und Konzentration, bezeugt ihr
Interesse aber nur selten aktiv durch ernsthafte Mitarbeit und
vertiefende Fragen."
Wenn Lisa schläft oder träumt, stört sie wenigstens den
Unterricht nicht. Ihre tägliche Wortmeldung bezieht sich auf
Petzen, ihre Fragen auf die Verlegung ihres Referatstermins oder
Erlaubnis zum Toilettenbesuch.
Schriftliche Arbeitsweise
"Michaels Schrift verrät nur wenig Sorgfalt und Ordnungssinn."
Michael hat eine fürchterliche Klaue, deren seltsame
Hieroglyphen erst in mühevoller Entzifferungsarbeit enträstelt
werden können.
"Mappen und Hefte führte Nadja ansprechend und mit viel
Übersicht."
Nadja hat zwar keine guten Leistungen erbracht, kann aber schön
schreiben.
"Olgas Heftführung offenbarte gestalterische Fähigkeiten."
Mit vielen Farben und Bildchen lenkt sie geschickt von den
zahllosen Rechtschreibfehlern ab. Englischvokabeln können im
Matheheft auftauchen oder Bioeinträge im Deutschordner.
"Bei der Ausführung schriftlicher Arbeiten offenbart Patrick
wenig Gespür und Geschick für eine gefällige Darstellung."
Patrick schribt unleserlich und schmiert. Hilfsmittel wie
Lineal und Farbsifte scheinen ihm unbekannt zu sein. Er quetscht
erstaunlich viel Text auf kleinstem Raum zusammen und klebt
fehlende Einträge ein, statt nachzutragen. Arbeitsblätter fehlen
entweder ganz oder sind nicht vollständig ausgefüllt.
"Ihr Arbeitstempo sollte Regina steigern".
Regina war beim Abschreiben, Ausfüllen, Einkleben, Herrichten,
Aufräumen, Eintragen usw. immer die Letzte und hat dadurch den
Unterrichtsfortgang aufgehalten.
"Stefans flottes Arbeitstempo geht teilweise auf Kosten der
Sorgfalt."
Da Stefan sein schriftlichen Arbeiten schlampig und
unvollständig anfertigt bzw. lieblos hinschmiert, ist er mit den
Aufgaben immer als Erster fertig. Daher hat er dann auch viel
Zeit, seine Mitschüler abzulenken und in ihrer Arbeit zu stören.
Häusliches Arbeiten
"Tanja legt bei der Erledigung ihrer Hausaufgaben auf
Vollständigkeit und Sauberkeit großen Wert."
Tanja macht zwar jeden Tag zuverlässig ihre Hausaufgaben, doch
meistens sind sie falsch oder vom Inhalt her sehr bescheiden.
"Udos häuslicher Fleiß muss gleichmäßiger auf alle Fächer
verteilt werden."
Außer in seinem Lieblingsfach Englisch lernt Udo rein gar
nichts.
"Mit erstaunlichem häuslichem Fleiß ist Verena um gute
Ergbnisse bemüht."
Verena ackert wie blöde, damit ihre unterdurchschnitliche
Begabung und Fähigkeiten nicht auffallen.
"Wolfgangs häuslicher Fleiß war zu erkennen, unterlag aber
großen Schwankungen."
Erst als Wolfgang kurz vor dem Durchfallen war, hat er mit dem
Lernen angefangen und mit Ach und Krach das Klassenziel noch
erreicht.
Sonstiges
"Erwähnenswert sind Xavers Leistungen im Sport."
Wenn Xaver schon nicht über Interesse am Sachunterricht,
Sprachbegabung oder naturwissenschaftliche Fähigkeiten verfügt
und dazu auch noch ziemlich faul ist, so hängt er sich
wenigstens beim Fußball spielen im Sportunterricht mächtig rein.
"Yvonnes mathematische Fertigkeiten sind ausgeprägter als ihre
sprachlichen."
Gut, dass Yvonne in Mathe einigermaßen mitkommt, wo sie doch
von Rechtschreibung keine Ahnung hat, kaum einen vollständigen
Satz bilden kann und in Englisch voll auf dem Schlauch steht.
"Zita erfüllte zuverlässig ihre Aufgaben als Schulbuslotse."
Da Zita weder durch bemerkenswerte Begabungen noch durch
ordentliche Leistungen glänzt, muss man sie wenigstens ihre
Tätigkeit als Schulbuslotsin loben.
Sicher habt ihr gemerkt, dass ich bei meinen "Übersetzungen"
bisweilen etwas übertrieben habe, damit der Gegensatz zwischen
Gesagtem und Gemeintem besser deutlich wird. Aber ich glaube,
jetzt wisst ihr auch, was ich damit meine, oder?
Natürlich kann sich dein Lehrer auch was völlig Anderes bei
seiner Bemerkung gedacht haben...
Nichts für ungut und schöne Ferien!
© 2000 Anja Gerstberger, Bilder: Copyright by
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