Ein "einmaliges" Kleid

"Wahnsinn!", rief Kristina hingerissen aus, als Marion in dem roten Kleid aus der Umkleidekabine trat. "Du siehst einfach klasse aus!" Kristina kriegte sich vor lauter Begeisterung über den umwerfenden Anblick ihrer Freundin überhaupt nicht mehr ein. "Das ist dein Kleid, du musst es haben!"

Die beiden Freundinnen hatten sich für diesen Nachmittag zu einer ausgedehnten Shopping-Tour verabredet, um sich für den bevorstehenden Sommerball ihres Gymnasiums das ultimative Kleid zu besorgen, das sie quasi automatisch zur bewunderten und umschwärmten Ballkönigin werden ließ. Über die Tatsache, dass es nur eine Ballkönigin geben wird, machten sich die beiden Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken. In diesem Moment waren sie Freundinnen und keine Konkurrentinnen.

Kristina und Marion waren während der letzten beiden Stunden in den verschiedensten Fachgeschäften gewesen, hatten aber bisher noch nichts Passendes gefunden. Oder besser gesagt, noch nichts, was ihren Vorstellungen entsprochen hätte. Entweder waren ihnen die Kleider zu pompös, zu damenhaft, zu langweilig oder zu gewagt.

Doch jetzt, in der kleinen Boutique, in die sie eher zufällig hinein geraten waren, wurden sie endlich fündig. Sie hatten bereits mehrere freche Cocktailkleider anprobiert und standen nun vor dem Problem, sich für eines der Traumgewänder entscheiden zu müssen.

"Das Kleid ist wie für dich gemacht!", redete Kristina weiter auf ihre Freundin ein, "nimm es, bevor ich es tue!"

Marion lachte, obwohl ihr eigentlich gar nicht nach lachen zumute war. Klar, das hautenge, minikurze Samtkleid mit den anmutigen Spaghettiträgern stand ihr wirklich ausgezeichnet und sie hatte sich auch auf Anhieb in diesen roten Traum verliebt. Als sie jedoch in der Kabine einen neugierigen Blick auf das Preisetikett geworfen hatte, war sie über den hohen Preis furchtbar erschrocken. 440 DM! Ihre Eltern hatten ihr 200 DM zugestanden, was Marion schon großzügig genug fand. Aber 450 DM kamen überhaupt nicht in Frage. Sie würde dann wohl doch das gelbe Kleid aus dem ersten Laden nehmen. Das hatte sie zwar nicht hundertprozentig überzeugt, wäre aber zu seinem Preis von 180 DM eine ordentliche Alternative.

"Leider nicht meine Preisklasse!", lächelte Marion mühsam. "Ich werde eben morgen nochmals losziehen. Immerhin haben wir noch eine Woche Zeit bis zu dem Ball."

"Schade." Kristina war sichtlich enttäuscht. "Es ist zwar super, aber zu meinen blonden Haaren sieht es lange nicht so toll aus wie bei deinen schwarzen."

"Und du, hast du dich schon entschieden, welches du nimmst?", erkundigte sich Marion.

Kristina schüttelte den Kopf. "Ich werde wohl am Wochenende mit Mam mal beim Strasser reinschauen.“ Strasser war das erste Modehaus am Platz. Schick und sündhaft teuer. Weswegen Marion sich vorhin geweigert hatte, den edlen Laden überhaupt zu betreten. Das konnten sich vielleicht die Berghoffs leisten, Kristinas Eltern hatten ziemlich Kohle, aber ihre eigene Familie auf keinen Fall. Und nur zu gucken, was es denn alles Schönes gibt, das für sie unerschwinglich war, dazu hatte Marion auch keine große Lust. Man muss sich nicht unbedingt selber quälen, fand sie.

"Tja, dann müssen wir wohl beide die wichtige Entscheidung vertagen!", scherzte Kristina und zog Marion am Ärmel zum Laden hinaus.

"Und du meinst wirklich, dass du das hinbekommst?", fragte Marion nun zum wiederholten Male ihre Mutter.

Diese lachte vergnügt über die Zweifel ihrer Tochter und entgegnete: "Klar. Ich hätte es dir von Anfang an angeboten, aber du warst so voller Begeisterung für eure Einkaufstour, dass ich mich dir nicht aufdrängen wollte."

"Ja, und die war ziemlich ernüchternd!", seufzte Marion in Erinnerung an den gestrigen Nachmittag mit Kristina, der mit dem frustrierenden Verzicht auf ihr Traumkleid geendet hatte.

Als sie völlig enttäuscht nach Hause gekommen und von dem tollen, aber sündhaft teuren Kleid erzählt hatte, hatte ihre Mutter den Vorschlag gemacht, am nächsten Tag nochmals gemeinsam in den Laden zu gehen, damit sie sah, wie das Kleid geschnitten war und einen entsprechenden Stoff zu besorgen, um es einfach selber zu nähen. Obwohl Marion um die hervorragenden Nähkünste ihrer Mutter wusste, sie hatte ihr immerhin schon das eine oder andere tolle Teil angefertigt, war sie skeptisch, ob das Unternehmen zu einem Erfolg werden würde.

Doch pünktlich am Vorabend des großen Ereignisses konnte Marion die gelungene Kopie ihrer Mutter anziehen und sich bewundernd vor dem Spiegel drehen.

"Super, Mama!", lachte sie. "Eine perfekt gelungene Fälschung!" Marion tanzte ausgelassen durch den Gang, bis sie außer Puste kam. "Vielen, vielen Dank!" Marion drückte ihrer Mutter einen herzhaften Schmatz auf die Wange. "Du bist die beste Mutter von allen!"

"Das will ich auch hoffen!"

"Wie konntest du mir das antun!", empörte sich Kristina, nachdem die beiden Mädchen in der Garderobe ihre Mäntel abgelegt hatten und sich zu ihrer beider Entsetzen im beinahe gleichen roten Kleid gegenüberstanden.

Kristina in dem Original, das sie dann doch noch auf Drängen ihres Vaters, der seine beiden Damen beim Einkaufen begleitet hatte, gekauft hatte und Marion in der billigeren Imitation ihrer geschickten Mutter.

"Wie hatte ich mich auf diesen Abend gefreut!", klagte Kristina weiter und kämpfte bereits gegen die ersten aufsteigenden Tränen an. "Und jetzt, jetzt hast du alles verdorben!"

"Moment mal", erwachte nun Marion aus ihrer Schreckensstarre, in die sie nach Kristinas Anblick gefallen war. "Du wolltest mit deiner Mutter doch zum Strasser! Wie konnte ich ahnen, dass du doch das rote Kleid kaufen würdest! Du warst schließlich diejenige, die so ein großes Geheimnis darum gemacht hat!"

Jetzt war Kristina an der Reihe, betreten zu schweigen. Denn Marions Vorhaltungen waren vollkommen berechtigt. Sie, Kristina, hatte die glorreiche Idee, dass jede der beiden Freundinnen der anderen nicht verraten dürfe, wie ihr Ballkleid nun aussehe. Um sich gegenseitig zu überraschen. Und die Überraschung war ja auch sichtlich gelungen.

Betretenes Schweigen. Beiderseitige Verunsicherung. Ungemütliche Stille.

Der Daniel, Kristinas älterer Bruder, ein jähes Ende bereitete.

Daniel hatte heute ausnahmsweise den großen Wagen seines Vaters nehmen dürfen und zusammen mit seiner Schwester Kristina zunächst seinen Kumpel Julian und dann ihre Freundin Marion abgeholt. Da er sich darüber wunderte, dass die beiden Mädchen nun schon stolze zehn Minuten dafür benötigten, um gerade mal einen Mantel auszuziehen und aufzuhängen, wollte er nun nach dem Rechten sehen und er staunte nicht schlecht, als er die beiden Mädchen erblickte.

"Stark, absolut stark!", begeisterte er sich für den roten Doppelpack. "Ihr schaut fantastisch aus und werdet allen anderen Mädels die Schau stehlen!" Daniel pfiff anerkennend durch die Zähne und ließ seinen Blick fasziniert unentwegt zwischen Kristina und Marion hin und her wandern. "Wirklich eine super Idee!"

Kristina und Marion lächelten sich zaghaft an. Sollte der Abend trotz ihres Missgeschicks doch noch zu einem Erfolg werden?

Nach ihrem aufsehenerregenden Auftritt und zahllosen Tänzen später hatten sie eine eindeutige Antwort erhalten.

Vor allem Kristina war aufgekratzter Stimmung, als sie nämlich beobachtete, dass ihr Bruderherz und Marion auffallend häufig miteinander tanzten und dabei ein umwerfendes Paar abgaben. Vermutlich bemerkten die beiden noch gar nicht, was sich da zwischen ihnen anbahnte, vermutete eine amüsierte Kristina mit einem wissenden Lächeln im Gesicht...

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