Der Sahnekünstler

„Hej, dein Geschäft scheint aber mächtig zu florieren!“, stellte Fabian mit einem Blick auf die beiden Prachtstücke von Torten fest, als er in die Küche hereinspazierte, wo seine Mutter gerade letzte Hand an die Verzierung legte.

Da sie ihren Service „Helgas Backträume“ erst seit wenigen Wochen betrieb, freute sie sich nicht nur über die zahlreichen Aufträge, die sie inzwischen gehörig auf Trab hielten, sondern vor allem über die anerkennenden Worte ihres Ältesten. Umso mehr, als ihr Göttergatte und die beiden Sohnemänner ihrem Vorhaben am Anfang äußerst skeptisch gegenüberstanden und ihrer Geschäftsidee keine guten Chancen einräumten. Doch zwei Tage nach der erfolgreichen Eröffnung mit großer Verlosung und einer gigantischen Kuchenschlacht trudelten die ersten Bestellungen ein, und sie kam durchschnittlich auf drei Bestellungen pro Tag, am Wochenende waren es natürlich mehr.

„Das sieht ja klasse aus!“, lobte Fabian mit einem bewundernden Blick auf die beiden kunstvoll garnierten Festtagstorten, von denen die eine mit zartrosa und die andere mit hellgelb eingefärbten Sahnetupfen versehen war. Während das gelbe Modell seinen Schriftzug „Oma Auguste zum 75. Geburtstag“ bereits erhalten hatte, wartete sein Kollege noch auf den entsprechenden Glückwunsch in rosa Sahne. „Darf ich?“, fragte Fabian nun und schaute gierig auf den Becher mit dem rosa Sahnerest, der nicht mehr in den Spritzbeutel gepasst hatte.

„Altes Schleckermäulchen!“, lachte Mutter und gab ihm nickend ihr Okay, während sie behutsam den Namen des Geburtstagskindes auf die Torte schrieb. In diesem Moment klingelte im Flur das Telefon. Fabian nahm den Anruf entgegen, kam aber sofort zurück, weil es sich um Kundschaft für seine Mutter handelte. Während sie noch

die Bestellung aufnahm, läutete es abermals, nun an der Sprechanlage.

„Hallo?“, meldete sich Fabian. „Ich möchte die Torte für Bergmanns abholen!“, antwortete ihm ein junge Stimme, unverkennbar weiblich.

„Einen Moment, ich bringe sie Ihnen runter“, versprach er und legte auf. „Bergmanns wollen ihre Torte abholen“, flüsterte er seiner Mutter im Vorbeigehen zu, während er in die Küche eilte, wo er das Sahnekunstwerk in den eigens dafür vorgesehen Pappkarton packen wollte.

„Halt, die Zahl muss doch noch drauf!“, warnte ihn Mutter, während sie mit der Hand die Sprechmuschel abdeckte, um das Gespräch mit ihrem Sohn vor unerwünschten Zuhörern zu schützen.

„Das kann ich doch schnell für dich machen“, beruhigte Fabian sie, nahm die Spritztüte mit der Sahne in die Hand, warf einen flüchtigen Blick auf die handschriftlichen Notizen seiner Mutter und schrieb die schönste 60, die er konnte. Danach verstaute er die Torte vorsichtig in dem Karton und trug sie zur Haustür. Als er sie öffnete, wäre er beinahe mit dem jungen Mädchen zusammengestoßen, das ihn dort bereits ungeduldig erwartete.

Fabian hatte der Stimme nach eher ein Kind erwartet, doch vor ihm stand ein Teenager von vielleicht sechzehn Jahren. Und was für ein süßer Fratz! Er schaute in ein wunderhübsches Gesicht mit blitzenden grünen Augen und lustigen Sommersprossen, das von störrischen roten Krissellocken umrahmt war.

„Nun aber her damit!“, forderte ihn das rote Teufelchen auf und griff nach der Torte. „Mein Bruder steht im Halteverbot und wird langsam nervös!.“

„Aber aufpassen, wär‘ schade um das schöne Stück!“, riet Fabian, weil er das Ende des Gesprächs mit diesem Traumwesen so lange wie möglich hinauszögern wollte.

„Für wie blöde hältst du mich eigentlich?“, entgegnete die Unbekannte daraufhin leicht verärgert, wobei ihre Augen kleine Wutblitze abschossen. Bevor allerdings Fabian etwas Wiedergutmachendes sagen konnte, waren ihre verkniffenen Lippen bereits wieder einem breiten Grinsen gewichen. „Ich hoffe, du hast nicht auf Kosten unserer Torte genascht!“, lachte ihn das Mädchen an, bevor sie sich unvermittelt umdrehte und Richtung Straße davonspazierte. Da er bei ihrer letzten Bemerkung nur Bahnhof verstanden hatte, blickte Fabian ihr mit verständnislosem Gesichtsausdruck nach.

„Danke, das war total lieb von dir“, empfing ihn Mutter wenige Augenblicke später bei seiner Rückkehr. „Ich musste eine recht umfangreiche und komplizierte Bestellung aufnotieren, da hätte ich das Gespräch nur schlecht unterbrechen können, um die Torte fertig zu garnieren.“

„Gern geschehen, ist doch wohl selbstverständlich!“, wehrte Fabian ab, weil er kein besonderes Aufheben um sein Einspringen als Sahnekünstler machen wollte. Außerdem war er noch immer völlig beeindruckt von der Begegnung mit dem sympathischen Mädchen.

„Jetzt solltest du aber doch mal kurz im Bad vorbeischauen!“, zwinkerte ihm Mutter verschmitzt zu.

„Wieso das denn?“, wunderte sich Fabian, machte sich aber dennoch auf den Weg dorthin. Als er in dem Spiegel über dem Waschbecken sein Gesicht sah, wäre er vor Scham am liebsten im Boden versunken. Seine Schleckerei mit der übriggebliebenen rosa Sahne hatte in seinen Mundwinkeln und sogar auf der Nasenspitze deutliche Spuren hinterlassen. „Also deswegen dieser Kommentar“, dämmerte es ihm und er ließ ein zerknirschtes Seufzen hören.

„Redest du mit mir?“, erkundigte sich Mutter aus der Küche.

„Nein, ich hatte mich eben nur wegen meiner wunderschönen Sechzig selbst gelobt.“, antwortete Fabian. „Ich glaube, ich habe während meiner gesamten Schulzeit keine so schöne Zahl geschrieben wie heute!“

„Sechzig!?!“, erklang Mutters Stimme unnatürlich schrill und mit einem Male ziemlich nahe, und schon streckte sie ihr völlig entgeistertes Gesicht ins Badezimmer. „Bitte, sag nicht, dass du eine Sechzig auf die Torte geschrieben hast!“ Blankes Entsetzen spiegelte sich in ihrer Miene wieder.

„Natürlich, stand ja so auf dem Zettel“, entgegnete Fabian verwundert.

„Mensch, das war eine 50, kannst du nicht lesen. Eine 50 und keine 60!“ Mutter schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn und stöhnte. „Mein Gott, ich darf gar nicht daran denken!“, jammerte sie. „Die Frau vom Bürgermeister aus Birkenfeld bekommt zu ihrem 50. Geburtstag eine Torte mit einer 60! Das war’s wohl mit der Kundschaft aus dem Nachbardorf!“ Mutter schlich sich niedergeschlagen in die Küche, wo sie total entmutigt auf einen Stuhl sank.

Fabian ging der Anblick seiner unglücklichen Mutter regelrecht an die Nieren und er wollte seine Scharte umgehend wieder auswetzen. Aber wie? Plötzlich kam ihm die rettende Idee. „Ich werde jetzt einfach zu den Bergmanns fahren und den Schaden beheben!“, kündigte er an und griff nach seinen Autoschlüsseln, die er vorhin auf die Anrichte gelegt hatte. „Und wie willst du das, wenn ich bitte fragen darf, hinkriegen?“, zweifelte Mutter am Vorhaben des unfreiwilligen Übeltäters. „Ich nehme die Sahne mit und mache aus der bösen 60 eine strahlende 50!“, erklärte Fabian. „Darf ich dich daran erinnern, dass du den Rest der rosa Sahne verputzt hast, ich keine Sahne und Kirschsaft zum Einfärben im Hause habe und die Geschäfte bereits geschlossen sind?“, wandte Mutter ein. „Pah, dann nehmen wir eben die gelbe, basta“, meinte Fabian ungerührt, griff nach dem notwendigen Zubehör und verschwand.

„Ach nee, du schon wieder, ganz schön hartnäckig, der Knabe!“ Auf sein heftiges Klingeln hin wurde Fabian, wie insgeheim von ihm erhofft, die Tür von dem rothaarigen Rauschgoldengel geöffnet, der ihn nun mit einem amüsierten Lächeln bedachte.

„Ich komme wegen der Torte“. Fabian trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

„Das habe ich mir fast gedacht.“ Dem Lächeln folgte ein fragendes Stirnrunzeln.

„Ich muß was ausbessern, vorausgesetzt, ihr habt sie noch nicht angeschnitten.“

„Ist das endlich die Gärtnerei mit dem Blumenschmuck, Felicitas?“, ertönte ein brummiger Männerbaß aus dem Wohnungsinneren.

„Nein, Papa, für mich!“, antwortete Felicitas und zog Fabian am Ärmel ins Haus. „Hier geht’s lang“, dirigierte sie ihn in die Küche, wo auf dem Tisch die vertraute Pappschachtel stand. Felicitas schaute Fabian interessiert zu, wie er den Deckel abnahm, mit einem Messer vorsichtig die rosa Sahne-Sechs entfernte und durch eine gelbe Fünf ersetzte. „Besonders toll sieht das aber nicht aus, die ganze Schrift ist rosa und nur die Fünf in gelb, also ich weiß nicht!“ Felicitas verzog missbilligend das Gesicht. „Dafür müssten wir eigentlich ein paar Mark Ermäßigung bekommen!“

„Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?“, erwiderte Fabian unwirsch, der über das Ergebnis seiner Bemühungen ebenfalls nicht sonderlich glücklich war.

„Die Pfuscherei würde lange nicht so stark auffallen, wenn noch mehr gelbe Verzierungen dabei wären.“, meinte Felicitas.

„Sahne ist noch genug da, nur welches Motiv?“ Fabian wartete auf einen Geistesblitz seiner Kundschaft. Felicitas dachte angestrengt nach. „Ich hab’s!“, rief sie plötzlich. „Meine Mutter liebt Musik und Klavierspielen ist ihr Lieblingshobby. Wie wäre es mit einem Notenschlüssel? Kriegst du einen hin?“

Fabian lachte. Ob er einen Notenschlüssel zeichnen kann? Er, der seit seinem achten Lebensjahr Gitarre spielte? „Eine meiner leichtesten Übungen“, behauptete er und legte los.

Am nächsten Tag läutete es bei den Schneiders während des Mittagessens an der Haustür, und ein Blumenbote gab eine einzelne riesige Sonnenblume mit einer Grußkarte für die Dame des Hauses ab. Neugierig entnahm Mutter dem passenden sonnengelben Umschlag einen Papierbogen der gleichen fröhlichen Farbe und las den Text ihren mindestens genauso gespannten Männern laut vor: „Helgas Backträume erfüllen selbst die geheimsten Träume! Vielen Dank für die originelle Verzierung, mit der Sie mitten ins Schwarze getroffen haben! Wir haben Sie allen unseren Gästen weiter empfohlen. Ihr begeisterter Roland Bergmann.“ Mutter strahlte glücklich in die Runde ihrer Lieben.

„So viel Getue wegen einem bisschen Sahne!“, knurrte Vater und schüttelte verständnislos seinen Kopf. Fabian und Mutter wechselten einen bedeutungsvollen Blick, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Und Fabian hoffte, dass er nicht nur bei Frau Bergmann ins Schwarze getroffen hatte....



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