Tierische Frühlingsgefühle

"Es ist wirklich zu ärgerlich, dass ich bei diesem herrlichen Wetter nicht mitkommen kann!", bedauerte Frau Huber und winkte ein letztes Mal von ihrem Fensterplatz aus herunter. "Viel Spaß euch beiden!"

"Danke, den werden wir sicher haben!", erschallte Heikes Antwort von unten. "Nicht wahr, Theo?"

Theos Bestätigung bestand in eifrigem Schwanzwedeln, lautem Gebell und energischem Ziehen an seiner Leine. Theo war nämlich ein stattlichen Berner Sennenhund, der über einen schier unglaublichen Bewegungsdrang verfügte und jetzt, nach zwei Tagen unfreiwilligen Hausarrests vor Ungeduld zu explodieren schien. .

"Ja, ja, mein Guter", lachte Heike über die ungestüme Ungeduld ihres vierbeinigen Freundes, "es geht ja schon los!"

Heike und Theo waren gute alte Bekannte, denn die 15jährige Schülerin führte den Hund bereits seit etwas mehr als einem Jahr zweimal wöchentlich aus.

Einerseits, um die alte Frau Huber, die mit ihren 82 Jahren auch nicht mehr die jüngste und Theos Wildheit und Riesenkräften immer weniger gewachsen war. Manchmal fragte sie sich bei den gemeinsamen Spaziergängen mit ihrem Liebling schon, ob nun sie den Hund spazieren führte oder umgekehrt. Daher war sie für Heikes Unterstützung mehr als dankbar und revanchierte sich bei ihrer jugendlichen Helferin mit regelmäßigen selbstgebackenen Leckereien und den einen oder anderen Geldschein, über den Heike zunächst schimpfte, ihn dann aber doch einsteckte.

Heike wiederum war eine alte Tiernärrin, durfte zu Hause jedoch kein eigenes Haustier halten. So war sie mehr als erfreut darüber, dass aus der zufälligen Begegnung mit der alten Dame im Stadtpark diese Freundschaft und Zweckgemeinschaft zugleich entstanden war.

"Hei, Theo, nicht so stürmisch!", schimpfte Heike, die beinahe umgerissen worden war, als Theo in Sichtweite der Grünanlagen vor lauter Begeisterung und Vorfreude plötzlich einen Zahn zugelegt hatte und unvermutet losgestürmt war. Da Theo mit seinem knappen Zentner fast genauso viel wie sein Spazier-Frauchen wog, musste Heike höllisch aufpassen, was ihr Schützling gerade im Visier hatte wohl als nächstes tun würde.

"Heike, huhu!", ertönte es von der Seite, kaum dass Heike das schmiedeeiserne Parktor passiert hatte Als sie sich daraufhin suchend in die Richtung wandte, aus der der Ruf gekommen war, erblickte sie Gesa und Natalie, zwei Mädchen aus ihrer Klasse. Eigentlich war sie gar nicht so dicke mit ihnen befreundet und so wunderte sich ein wenig darüber, dass die beiden sie über 5o Meter Luftlinie hinweg angesprochen hatten.

"Ist das dein Hund?", erkundigte sich Gesa, als sie zu ihr aufgeschlossen hatten.

"Nein, Theo gehört einer alten Frau", entgegnete Heike und tätschelte Theo liebevoll am Hals. "Ich führe ihn nur regelmäßig aus, nicht, Dicker?"

Ungeachtet der gerade abbekommenen Beleidigung gab der Angesprochene ein kurzes, zustimmendes Bellen von sich. Um anschließend neugierig Natalies Beine zu beschnuppern und zu umkreisen.

"Geh weg", wehrte diese den aufdringlichen Verehrer ab, der ihr wegen seiner beeindruckenden Größe nicht ganz geheuer war. Und prompt sprang Theo an ihr hoch und wollte ihr das Gesicht ablecken. Natalie quiekte entsetzt, Gesa lachte und Heike kam ihrer Herrchen-Pflicht nach Zurechtweisung nach.

"Theo, Platz!", befahl Heike, worauf Theo sich sofort brav neben sie hinsetzte.

"Wow, den hast du aber gut im Griff!", meinte Gesa anerkennend.

"Nun ja, anders geht es eben auch nicht!", meinte Heike, erfreut über Gesas Lob. "Schließlich sollen die anderen Passanten vor dem riesigen Theo keine Angst haben müssen!"

Sprach´s und ging in die Hocke, um sich den rechten Schuh zu binden.

Als ob er nur auf diese Unaufmerksamkeit seines Frauchens gewartet hätte, nutzte Theo die günstige Gelegenheit und flitzte los. Die Wucht des davon stürmenden schwarz-weiß-braunen Fellkolosses riss Heike auf der Stelle um, wobei sie die Leine aus der Hand verlor. Und Theo war weg. Ein spitzer Schrei, ein ungläubiger Blick, mühsames Aufrappeln. Zwei zu Salzsäulen erstarrte Mädchen schauten fasziniert der im atemberaubenden Tempo spurtenden Heike nach, die verzweifelt versuchte, den entflohenen Übeltäter zu stellen. Kaum zwanzig Sekunden später war das rasende Paar ihrem Blick entschwunden.

"Hau ab, du blöder Köter!", schimpfte wütend ein blonder Schlaks und versuchte vergeblich, den liebestollen Theo von seiner anmutigen Colliehündin zu vertreiben. "Zieh endlich Leine! Mach schon!"

Heike bremste ihren Lauf ab, schnappte nach Luft und näherte sich langsam dem lebhaften Szenario, das sich da vor ihren Augen abspielte. Theo balzte mit tolpatschigem Charme die rollige Hündin an, die nur zu gerne ihren Möchtegern-Casanovava erhört hätte, wenn nicht ihr Herrchen unter Aufbietung all seiner Kraft ein Zusammenkommen der vierbeinigen Turteltauben verhindert hätte. "Wo ist denn nur dein blödes Herrchen?", giftete der Schlaks den armen Theo an. "Oder ist es ein Frauchen? Na klar, bestimmt ist es ein Frauchen, wer sonst wäre denn zu blöd, einen Rüden auf läufige Hündinnen loszulassen!"

"Theo, komm sofort her!", schaltete sich Heike ein. Aber ihr Schützling verweigerte in seinem Rausch den Gehorsam und kehrte erst wieder auf den harten Boden der Realität zurück, als er unsanft an seinem Halsband und unbarmherzig weggezerrt wurde.

"Na endlich!", knurrte der Schlaks, "Wurde aber auch höchste Zeit!"

"Tut mir wirklich leid", entschuldigte sich Heike zerknirscht, "er ist mir abgehauen, als ich mir die Schuhe gebunden habe!"

"Schon gut", lenkte der Schlaks ein, bereits wesentlich freundlicher gestimmt, was, wie Heike nicht ahnen konnte, damit zusammenhing, dass es sich bei Theos Frauchen um ein äußerst ansehnliches Exemplar handelte.

"Jetzt können wir nur hoffen, dass nichts passiert ist!", grinste Miss Collies Herrchen Heike an.

"Oh nein!", rief Heike erschrocken, "Theo hat doch nicht...?" Aus Peinlichkeit über das pikante Thema führte sie den Satz nicht zu Ende.

"Das werden wir spätestens in einigen Wochen wissen!", lachte der Schlaks. Heike fand die Situation weit weniger komisch und sah sich bereits mit einer Horde Collie- Berner-Mischlingen beglückt, für die sie die Verantwortung zu übernehmen hatte.

"Am besten du gibst mir deine Telefonnummer, dann kann ich dir Bescheid geben", bot der Schlaks nun an und stellte sich als Fabian vor.

"Gut." Heike nannte ihm ihre Nummer, bevor sie sich mit Theo auf den Nachhauseweg machte. Frau Huber würde sie nichts von dem peinlichen Zwischenfall erzählen, nahm sie sich vor. Der Ärger würde, wenn überhaupt, noch früh genug kommen.

"Zehn Tage lasse ich sie zappeln", dachte sich Fabian währenddessen, "dann rufe ich sie an und gebe Entwarnung." Denn er wusste bereits jetzt, dass es keinen Hundenachwuchs geben würde, wollte aber die unerwartete Gelegenheit, ein sympathisches und überaus hübsches Mädchen wiederzusehen, nicht einfach so ungenutzt an sich vorbei ziehen lassen.

"Zehn Tage", murmelte er, "und unsere Erleichterung über den glücklichen Ausgans feiern wir bei meinem Lieblingsitaliener!"

Fröhlich und zufrieden vor sich hin pfeifend trottete Fabian mit seiner enttäuschten Hundedame Senta an der Seite nach Hause.


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